Für die Statistiker des Bundes ist unbestritten: Die Bevölkerung in der Schweiz wird weiter wachsen. Je nach Szenario auf zwischen 9,4 und 11 Millionen Einwohner im Jahr 2045.
Im mittleren Szenario, das von einer Fortsetzung der Entwicklung der letzten Jahre ausgeht, rechnet das Bundesamt für Statistik (BFS) mit 10,2 Millionen Einwohnern.
Geburten und Todesfälle spielen dabei eine geringe Rolle. «Über 80 Prozent der Zunahme sind auf den Einwanderungsüberschuss zurückzuführen», schreibt das BFS.
Ebenfalls bemerkenswert: Die Zahl der Alten wird markant zunehmen. Bis 2045 wird bei den Personen über 65 Jahren ein Wachstum von 84 Prozent erwartet. Das mittlere Szenario rechnet mit insgesamt 2,7 Millionen Alten, 1,2 Millionen mehr als heute. Blick.ch hat bei Zukunftsforscherin Karin Frick vom Gottlieb-Duttweiler-Institut nachgefragt, was das für die Schweiz der Zukunft bedeutet.
Blick.ch: Frau Frick, wird die Schweiz bis 2045 zu einem riesigen Altersheim?
Karin Frick: Das muss überhaupt nicht sein. Es ist gut möglich, dass es 2045 biologisch gar keine Alten mehr gibt.
Was soll das bedeuten?
Im Moment wird intensiv geforscht, wie der Alterungsprozess und die damit verbundenen Krankheiten ausgetrickst werden können. Wenn das gelingt, dann können wir alle bald schon viel älter werden. Und dabei erst noch gesund bleiben.
Ein Hirngespinst?
Keineswegs. Google investiert zum Beispiel mit seinen «Calico Labs» sehr viel auf diesem Sektor, der renommierte Biochemiker Craig Venter mit seiner Firma «Human Longevity» ebenfalls. Das sind nicht die Ideen von irgendwelchen skurrilen Science-Fiction-Schriftstellern, sondern von seriösen Unternehmen. Google ist ja nicht gerade dafür bekannt, in esoterische Luftschlösser zu investieren.
Angenommen, den Forschern gelingt tatsächlich ein solcher Durchbruch. Was bedeutet das für uns und für unser Leben?
Zuerst heisst das, dass wir älter werden, aber körperlich nicht altern. Der Urgrossvater wird sich also optisch von seinem Urenkel nicht mehr unterscheiden. Man wird neu definieren müssen, wie man sich von den Mitmenschen unterscheidet, weil das Alter und die damit verbundene physische Verfassung als Unterscheidungsmerkmale wegfallen.
Werden wir dann unsterblich?
Wohl kaum. Und sicher nicht über Nacht. Zuerst einmal muss man vielleicht sagen, dass man schon heute davon ausgeht, dass die nach dem Jahr 2000 Geborenen 120-jährig werden können – ohne den grossen Durchbruch, einfach dank dem medizinischen Fortschritt. Und auch wenn es diesen Durchbruch geben sollte, können wir immer noch Unfälle haben, es kann immer noch Krankheiten geben, die wir nicht kurieren können.
Die Rente mit 65 dürfte dann so oder so vom Tisch sein.
Logisch. Die verminderte Leistungsfähigkeit im Alter wird kein Grund mehr für die Pensionierung sein. Unsere Leistung wird mit 80 die gleiche sein wie mit 40. Wir werden andere Kategorien finden müssen, um über den Ruhestand nachzudenken. Das gilt aber nicht nur für die Arbeitswelt. Wir werden unsere Biographien umschreiben, neu denken müssen.
Das heisst?
Das Lebensmodell, das wir heute kennen, war auf eine Zeit angelegt, als man vielleicht 60 oder höchstens 80 Jahre alt wurde. Da hatte man eine Berufskarriere, eine Beziehung, eine Familie. Das kann sich ändern. Vielleicht hat man dann mehrere Familien hintereinander. Und fängt mit 50 beruflich und privat noch einmal von vorne an. Oder mit 100. Wahrscheinlich wird man irgendwann sagen: 100 ist das neue 50.
Woher sollen denn diese Jobs alle kommen?
Da werden wir neue Wege gehen und neue Lösungen finden müssen. Vielleicht macht man dann einfach nicht für die letzten 20 oder 30 Lebensjahre Pause vom Arbeiten. Sondern alle zehn Jahre für zwei. Zum Beispiel.
Wenn alle arbeiten und niemand in Rente geht, dürfte wenigstens die Zukunft der AHV nicht gefährdet sein.
Die Altersvorsorge wäre dann deutlich weniger wichtig, stattdessen müsste man in das soziale Sicherungssystem investieren. Und eben vielleicht für die Zeit vorsorgen, wenn man mit 50 oder 60 Jahren noch einmal an die Uni geht, und dann weniger Geld verdient. Heute sorgen viele Institutionen für den Moment des körperlichen Verfalls vor. Das wird weniger wichtig werden.
Aber ist ein solches Szenario überhaupt erstrebenswert? Lange leben und immer arbeiten? Das klingt anstrengend.
Das klingt doch reizvoll. Mit 60 kann ich dann den Umstieg auf eine neue Karriere planen statt auf den Rollator. Das ist doch die viel bessere Alternative.
Aber auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Man muss ja mit der zusätzlichen Lebenszeit etwas anzufangen wissen.
Mehr Gesundheit fordert heraus. Man muss das neue Leben neu gestalten. In der Gesellschaft wie im Privaten. Aber klar, viele Menschen sind solchen Szenarien gegenüber skeptisch. Man wird zum Teil hart angegangen, wenn man solche Ideen vertritt. Dabei ist ja das Witzige: Viele Religionen glauben ja auch ans ewige Leben – einfach im Himmel. Wieso soll es schlechter sein, dank dem Fortschritt der Wissenschaft länger auf der Erde zu leben? Aber das ist eine alte Geschichte.
Inwiefern?
Es gibt die Haltung, man solle in Würde altern und abtreten, wenn es Zeit ist. Aber wir intervenieren ja schon heute. Wir leben mittlerweile viel länger als vor hundert oder zweihundert Jahren.
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass Ihr Szenario eintritt?
Das kann man nicht sicher sagen. Aber wenn man sieht, wer in diese Forschung investiert und wie viel investiert wird, kann man davon ausgehen, dass die Chancen gut sind, dass es grosse Fortschritte geben wird.
Und dann schlucken wir eines Tages einfach eine Pille und werden nicht mehr älter?
Mit welcher Substanz und in welcher Häufigkeit, das kann man noch nicht sagen.
Für wen wird eine solche Anti-Aging-Pille oder -Therapie zugänglich sein? Für den reichen Westen und der Rest der Welt stirbt weiterhin früher?
Das glaube ich nicht. Es ist nicht ökonomisch, jemanden krank werden zu lassen. Für die Gesellschaft ist es teurer, Kranke zu behandeln. Eine Zweiklassengesellschaft ist teuer. Darum denke ich nicht, dass nur die Reichen alt werden und die Armen sterben. Wir werden alle individuellere Lebenspläne haben müssen, uns und unsere Auszeiten selber organisieren. Experimente sind gefragt.
Wann stirbt man dann überhaupt noch?
Wenn einem die Ideen ausgehen.