Sommaruga präsentierte den Bundeshausmedien am Dienstag einen ganzen Katalog von Nachteilen, die die Annahme der Initiative am 28. Februar 2016 mit sich bringen würde. Bedenken hat sie zunächst aus rechtsstaatlichen Gründen. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, angenommene Initiativen umzusetzen, sagte sie.
Weil die Durchsetzungsinitiative direkt anwendbar sei und nicht zuerst in ein Gesetz gefasst werden müsse, breche sie demokratische Grundregeln. Das Parlament und die Kantone, die bei der Umsetzung mitreden könnten, würden übergangen. Die automatische Ausschaffung schränkt auch den Spielraum der Gerichte ein. Damit werde die Gewaltenteilung ausgehebelt, sagte Sommaruga. Die Bevölkerung werde so faktisch zum Parlament und auch gleich zu Gericht.
Das bringt grosse Umsetzungsprobleme mit sich. Der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser, Präsident der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), warnte vor einem «Chaos». Die neue Verfassungsbestimmung würde noch am Tag der Abstimmung in Kraft treten. Zu dem Zeitpunkt hätten die Kantone aber weder das Personal noch die Infrastruktur, die Ausschaffungsregeln umzusetzen.
Diese könnten laut Käser auch zu widersprechenden Entscheiden von Straf- und Ausländerbehörden führen. Die Folgen wären Ungerechtigkeit, Inkohärenz und Unsicherheit. Es sei kein Zufall, dass sich 40 Ständerätinnen und Ständeräte als Vertreter der Kantone gegen die Durchsetzungsinitiative engagierten, sagte Käser.
Die drohende Unsicherheit besorgt auch die Bundespräsidentin. Probleme sieht sie nicht zuletzt im Verhältnis zur EU. Automatische Ausschaffungen könnten nämlich das Freizügigkeitsabkommen mit der EU verletzen. Dadurch werde das ohnehin angespannte Verhältnis mit Brüssel weiter belastet, sagte die Sommaruga.
Die Wirtschaft leide bereits unter den Unsicherheiten, die die Masseneinwanderungsinitiative ausgelöst habe. Sie müsse sich überlegen, was eine Initiative bedeute, die das Verhältnis zur EU weiter erschwere. Sommaruga nahm damit die Wirtschaftsverbände ins Visier, die sich nicht gegen die Initiative engagieren wollen.
Die Bundespräsidentin geisselte das Volksbegehren auch als «unmenschlich», weil sie einen grossen Teil der Bevölkerung wie Menschen zweiter Klasse behandle. Zudem handle es sich nicht bloss um eine Durchsetzungs-, sondern vielmehr eine Verschärfungsinitiative.
Tatsächlich könnte eine Annahme dazu führen, dass im Wiederholungsfall sogar Bagatelldelikte mit einer Landesverweisung von bis zu 15 Jahren geahndet werden müssten. Sommaruga nannte das Beispiel einer in der Schweiz geborenen Ausländerin, die wegen eines Graffiti wegen Sachbeschädigung verurteilt wird. Falls die Seconda schon früher etwa wegen Beschimpfung zu einer geringfügigen bedingten Geldstrafe verurteilt worden sei, müsste sie des Landes verwiesen werden.
Die vom Parlament beschlossene Umsetzung der Ausschaffungsinitiative enthält für diese Fälle eine Härtefallklausel. Wer eine schwerwiegende Straftat begeht, soll zwar automatisch des Landes verwiesen werden. Falls dies zu völlig stossenden Ergebnissen führen würde, soll das Gericht jedoch die Notbremse ziehen können.
Zu denken ist etwa an das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter, die mitsamt ihren Kindern in ein Land ausgewiesen werden soll, in dem sie nie gelebt hat, wo sie keine Verwandten hat und dessen Sprache sie nicht spricht. Solche das Gerechtigkeitsempfinden krass verletzenden Urteile liessen sich bei Annahme der Durchsetzungsinitiative kaum vermeiden.
Das würde zu einem markanten Anstieg der Zahl von Ausschaffungen führen. Gemäss Berechnungen des Bundesamts für Statistik würden mit der Umsetzungsvarianten des Parlaments jährlich knapp 4000 Personen des Landes verwiesen, bei Annahme der Durchsetzungsinitiative wären es über 10'000.
Diese Zahlen seien jedoch mit grossen Unsicherheiten behaftet, sagte Martin Dumermuth, Direktor des Bundesamts für Justiz. «Was die Gerichte entscheiden, kann heute nicht prognostiziert werden», sagte er. Das Bundesgericht hatte schon 2012 angekündigt, sich unter Umständen über einen Automatismus hinwegzusetzen.