«Laden Sie Ihren Akku auf.» «Tanken Sie neue Energie.» «Gegen Ermüdungserscheinungen.» So werben die Apotheken in ihren Kundenmagazinen für eine kleine Lutschtablette. Sie sieht den altbekannten Sugus zum Verwechseln ähnlich und schmeckt auch fast so. Ihr Name: Gly-Coramin. Das Spezielle an diesem Arzneimittel: Es ist das einzige als Dopingmittel geführte, das rezeptfrei in Apotheken und Drogerien erhältlich ist. Die Lutschplätzchen enthalten neben Traubenzucker den Wirkstoff Nicethamid. «Das ist eine Substanz, die den Kreislauf, das Nervensystem und das Atemzentrum stimulieren», bestätigt Beat Villiger (73), langjähriger Olympiaarzt und Drogenspezialist. «In therapeutischen Dosen ist Gly-Coramin für Erwachsene unbedenklich.»
Trotzdem hat Gly-Coramin einen Haken: Obwohl eher harmlos, steht sein Wirkstoff auf der Liste der verbotenen Dopingmittel. Wettkampf-Sportler mit Dopingkontrollen müssen aufpassen: Schwinger Bruno Gisler (34) beispielsweise wurde 2013 für ein halbes Jahr von Wettkämpfen gesperrt. In seinem Urin waren Spuren von Nicethamid festgestellt worden – höchstwahrscheinlich aus Cly-Coramin. Amateursportler schreckt das wenig: Gly-Coramin ist bei Grümpelturnieren beliebt, Spieler versprechen sich Puste. Studenten füttern sich vor Prüfungen gerne mit den Lutschern. Und Apotheker bestätigen, dass Gly-Coramin bei älteren Herrschaften ein Klassiker als Aufputschmittel auf Bergtouren ist: Es erleichtert die Atmung bei Höhenaufenthalten.
Nicht rezeptpflichtig, aber beratungspflichtig
Besteht mit der Rezeptfreiheit nicht Missbrauchsgefahr? Dazu Daniela Bersier von Swissmedic, der Aufsichtsbehörde für Heilmittel: «Gly-Coramin ist zwar nicht rezeptpflichtig, aber beratungspflichtig. Der Apotheker muss den Kunden über Verwendungszweck befragen und über Nebenwirkungen aufklären. Für uns besteht kein Handlungsbedarf.»
Bereits 1924 entwickelte das Pharmaunternehmen Ciba das Kreislaufstimulans Coramin. Mit Traubenzuckerzusatz blieb Gly-Coramin lange auf Erfolgskurs. Bei den Olympischen Spielen 1986 in Mexiko, so heisst es, hätten viele Mannschaftsärzte Gly-Coramin – damals noch erlaubt – im Notfallkoffer mitgeführt. 2006 wollte Novartis das Medikament mit einem Snöber-Sujet («Mehr Energie») bei jungen Zielgruppen neu positionieren. Die Kampagne wurde Thema beim «Kassensturz» und ein Flop. Beat Villiger, Chefarzt von Swiss Olympics, erklärte damals: «Dass junge Sportler mit einem solchen Medikament angesprochen werden, kann nicht toleriert werden.» 2010 verkaufte Novartis die Marke Gly-Coramin an das appenzellische Pharma-Handelsunternehmen Hänseler AG in Herisau. Eine Packung Gly-Coramin mit 30 Tabletten kostet Fr. 18.90 – bei gegenwärtigen Aktionen bis zu 20 Prozent weniger.