Hunderttausende Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer nach Europa. Viele verlieren dabei ihr Leben: 2016 sind bereits 3930 Menschen auf der Flucht ertrunken. Antonia Zemp (32) aus Wattwil SG ist ausgebildete Pflegefachfrau und seit Mitte Juli für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Noch bis Mitte November versorgt sie auf dem Rettungsschiff Dignity 1 Flüchtlinge, die aus dem Mittelmeer gerettet werden. Für BLICK hat sie Tagebuch geführt.
11. Oktober: Nach zwei Wochen Auszeit bin ich zurück. In Pozzallo auf Sizilien gehe ich an Bord der Dignity 1. Spätabends machen wir uns auf den Weg in die Such- und Rettungszone vor der Küste Libyens. Noch wissen wir nicht, was auf uns zukommen wird …
12. bis 15. Oktober: An den ruhigen Tagen hole ich nach, was in meinen Ferien liegen blieb, schreibe Berichte, bespreche mit meinen Teamkollegen die letzte Rettung. Wir bringen das Schiff für die nächste Rettung auf Vordermann.
16. Oktober: Wir retten 250 Menschen. Auch Neugeborene sind darunter. Sie brauchen spezielle Versorgung. Oft sind sie von der tagelangen Überfahrt auf dem Meer unterkühlt. So wie die zwei neugeborenen Zwillinge, die wir Ende August aus dem Meer fischten. Ihre Mutter hatte sie einzeln in dicke Stoffbündel gepackt. Vom Meerwasser waren die Bündel völlig durchnässt. Einer der Säuglinge war unterkühlt, sie wurden deshalb ausgeflogen. Am Ende wurden sie berühmt, sogar CNN berichtete über sie.
17. Oktober: Wir liegen im Hafen von Augusta (I)vor Anker, füllen unsere Vorräte auf, reinigen das Boot und machen uns bereit zum Auslaufen.
20. Oktober: Wir fahren wieder in Richtung Rettungszone vor der libyschen Küste. Es wurden viele Boote gesichtet. Die Stimmung ist angespannt. Was wird wohl auf uns zukommen?
21. Oktober, 15 Uhr: Die italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung meldet ein Gummiboot vor der libyschen Küste in Not. Als wir kurz vor Sonnenuntergang eintreffen, sind 17 Personen verletzt: Sie haben zum Teil grossflächige Brandwunden. Die Evakuierung der 120 Personen läuft ruhig, auch die Versorgung der Verletzten. Wir spülen das Benzin von ihrer Haut ab, den Verletzten legen wir einen Verband an. Als alle versorgt sind, machen wir 120 Welcome-Kits für den nächsten Einsatz bereit. Um ein Uhr morgens legen wir uns schlafen.
22. Oktober, 4.30 Uhr: Alarm. Mehrere Schlauchboote mit Flüchtlingen an Bord sind in Sicht. Eine halbe Stunde später treiben bereits sehr viele Leute im Wasser. Sie haben schwere Verbrennungen von dem Wasser-Benzin-Gemisch, das in den Schlauchbooten schwimmt. Als eines der Boote näherkommt, sehen wir: Darin schwimmen bereits mehrere Tote. Ein anderes Boot beginnt zu sinken. Panik bricht aus, Menschen springen ins Wasser. Wir retten alle, die wir sehen. Viele andere bleiben verschollen. Niemand weiss, wie viele es sind. Als die Überlebenden an Bord kommen, geht alles schnell: Eine Frau wird bewusstlos zu uns gebracht. Wir versuchen zu reanimieren, doch können nichts mehr für sie tun. Die Schiffscrew versorgt die Leute an Deck und wäscht das Benzin von der Haut. Bei uns in der Spitalabteilung wird jede halbe Stunde ein kritischer Patient angeliefert. Zwei junge Männer, die unter Wasser waren und einen Kreislaufstillstand hatten, holen wir zurück ins Leben, sie werden später ausgeflogen. Draussen auf See kommen immer mehr Boote in Sicht. Wir fahren mit dem Aussenboot zu den Flüchtlingen, nehmen Frauen, Kinder und Verletzte auf und verteilen Schwimmwesten.
22. Oktober, nachmittags: Die beiden Schwerverletzten werden auf ein anderes Schiff gebracht und von dort ausgeflogen. Gleichzeitig müssen 120 Leute das Boot wechseln, da wir sonst mit über 600 Menschen an Bord nicht losfahren können. Auch die, die es nicht geschafft haben, kommen jetzt auf ein anderes Boot. Elf Tote sind es – sieben Erwachsene und vier Kinder.
23. Oktober: Unser Schiff ist in voller Fahrt unterwegs nach Sizilien. Ich funktioniere einfach, behandle die Patienten mit den Brandwunden auf unserer Spitalabteilung. Nur einmal hatte ich fünf Minuten Pause. Da habe ich mit einer Frau geweint, die ihre Kinder im Meer verloren hatte, dann musste ich weiter.
24. Oktober, 10 Uhr: Die Dignity 1 mit rund 480 Migranten an Bord erreicht Sizilien. Ich bin erleichtert, als ich sehe, dass Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen uns in Empfang nehmen. Unter ihnen sind zwei Psychologen, sie betreuen die Überlebenden. Denn die Flüchtlinge haben Schreckliches erlebt. Da ist dieser Familienvater aus Westafrika, der fast seine ganze Familie verloren hat: Seine Frau, drei seiner Kinder, darunter der acht Monate alte Sohn. Sie alle sind im Mittelmeer ertrunken. Nur seine Tochter (4) hat überlebt. An Land habe ich ihn in den Arm genommen, und er hat sich für seine Rettung bedankt. Er hat dem Tod ins Auge geschaut. Ein anderer Mann hat seine Frau an Bord der Dignity 1 verloren. Verzweifelt haben wir versucht, sie zu reanimieren – ohne Erfolg. Sie hatte zwei kleine Kinder, der Bub ist erst anderthalb Jahre alt und hat während der ganzen Überfahrt nach seiner Mutter gefragt. Es war herzzerreissend.
25. Oktober, 9 Uhr: Die Dignity 1 läuft im Hafen von Malta ein. Hier ist unsere Basis. Wir füllen unsere Vorräte auf, das Schiff wird gereinigt. Am Nachmittag haben wir uns frei genommen. Am Abend geht die Besatzung gemeinsam etwas trinken. Wir sprechen über unseren belastenden letzten Einsatz.
26. Oktober: Wir mussten unseren Arzt losschicken, um neues Morphium zu besorgen. Unsere Medikamentenvorräte, die eigentlich bis Ende Jahr reichen sollten, sind bereits aufgebraucht. Ich mache mich auf die Suche nach einer Ersatzbatterie für den Defibrillator. In den letzten Tagen kam er so oft zum Einsatz, dass die Batterie ihren Geist aufgegeben hat.
27. Oktober: Zwischendurch schlafe ich viel und merke: Der letzte Einsatz hat uns extrem in Anspruch genommen.
29. Oktober: Am Montag soll es wieder losgehen. Übers Wochenende waren die Wellen zu hoch, um auslaufen zu können. Wir hatten deshalb Zeit, um nachzudenken. So viele Menschen sind im Mittelmeer ertrunken. Wir haben auch Syrer bei uns an Bord. Es ist unvorstellbar traurig, dass sie nochmals ihr Leben riskieren müssen, um sich vor dem Krieg in Sicherheit zu bringen.
Bearbeitung: Cyrill Pinto