Schnell noch im Vorübergehen das Corona-Zertifikat gezeigt – und das ist dann für manche schon die letzte kontrollierte Handlung des Tages ... Willkommen am Lauberhorn-Skirennen!
Am Girmschbiel, wo die Zahnradbahn die Massen entlässt, gleich unterhalb des Hundschopfs, dieses Höllensprungs, wartet das Volk geballt auf seine Helden. Der Fan-Berg präsentiert sich als wundersame Welt des Wahnsinns, hier gelten spezielle Regeln: Kleidung, Sitten, Umgangsformen – alles völlig anders.
Man johlt, tanzt – und bechert
Manche sind geschminkt, andere haben Glocken umgeschnallt, Guggenmusiken spielen krachend auf. Viele sind mit Ski unterwegs, andere pilotieren Schlitten oder absurde selbst gebaute Vehikel wie Küchenschränke oder Holzkisten auf Brettern. Man johlt, tanzt, hüpft – und bechert.
Der Schauplatz ist schnell erklärt. Auf einer Seite ragt eine Wand auf, steil und eisig genug, um sich das Genick zu brechen. Das ist die Rennpiste. Auf der anderen ist ebenfalls eine steile Wand. Das sind die Zuschauer. Zum Runterpurzeln stehen die Leute zu dicht. Wer es doch schafft, landet praktischerweise gleich vor der riesigen Bar.
Noch weiter unten, im Ziel, ist in diesem Jahr nicht wirklich Publikum zugelassen. Die Bilder aus Adelboden BE vor einer Woche, als sich trotz Pandemie im Zielraum extrem viel Volk tummelte, hat man auch in Wengen BE gesehen. Den dazugehörigen Aufschrei wollte man hier vermeiden. Fragwürdig, ob das so bleibt.
Die meisten verzichten auf Masken
Am Fan-Berg gilt 3G, und wo es eng wird, ist Maske vorgeschrieben. Doch auch im Gedränge, Schulter an Schulter, verzichten die meisten auf den Mundschutz. Aus Österreich kommt zur gleichen Zeit die Meldung, dass Après-Ski bis zu 80 Prozent der Omikron-Neuinfektionen im Freizeitbereich ausmacht.
Rainer Maria Salzgeber moderiert in Festlaune, begrüsst alt Bundesrat Adolf Ogi und weitere Würdenträger. Der Menge ist es egal. Bis das Rennen beginnt, geht es vor allem darum, auf Betriebstemperatur zu kommen. Viele haben im Schnee persönliche Bars aufgebaut, mit Weisswein und Wodka. Rauchschwaden wabern über der Menge, der Hang riecht wie ein Raclettestübli.
Luftwaffe macht um 12 Uhr Mittag
Zuerst sieht man sie nur. Sechs Pfeile, rot und weiss. Kampfjets im Tiefflug. Dann hört man sie. So brüllend laut, dass das Gehör nur noch rauscht, während der Schall von Eiger, Mönch und Jungfrau zurückgeworfen wird. Die Patrouille Suisse zeigt, was sie das Jahr über so treibt. Schon kommen sie wieder. Von Grindelwald BE her. Von Wengen her. Und wieder. Und wieder. Kurz nach 12 Uhr ist Schluss. «Die müssen zum Zmittag», heisst es. Die Arbeitszeiten der helvetischen Luftwaffe sorgen auch hier für Schenkelklopfer.
Barbara Abegglen lädt Wildfremde grosszügig zum Raclette. Auf dem Rechaud geschmolzen und mit ordentlich Pfeffer drüber. Für sie ist das Lauberhorn ein Heimspiel, sie kommt seit Jahrzehnten her. «Für das Skifahren lebe ich», sagt die Tante des Schweizer Abfahrtschefs Reto Nydegger. Weil ihr Neffe vor den Schweizern die Skandinavier trainiert hat, schwingt sie auch die Norwegerfahne und turnt – so um die siebzig – topfit am Berg herum. Weil gleich das Rennen beginnt, brauchen die Leute aus Iseltwald BE natürlich noch eine Stärkung. Ihr Geheimrezept: eine volle Packung Ricola, aufgelöst in Schnaps und Wasser.
Als Beat Feuz angeschossen kommt, explodiert der Berg. Das Volk schwenkt noch seine Fähnchen, als der Rennfahrer längst weiter in die Tiefe saust. So eine Abfahrt ist schnell vorbei.
Aber viele sind sowieso wegen des Drumherums da. «Hier geht der Schweizer aus sich heraus», erklären Claudia und Steffi, die ursprünglich aus Deutschland stammen, aber seit Jahren in Bern und im Berner Oberland leben. Eine solche Après-Ski-Sause wie hier kennen die beiden eigentlich nur aus dem Ausland. Das gilt wohl auch für viele andere, weshalb sie sämtliche Freunde und Bekannte, die leider nicht hier sein können, fleissig live mit Handybildern informieren, welche Gaudi sie gerade verpassen.
«Spannend ist, wie man runterkommt»
Dann ist das Rennen vorbei, Zeit für den Abstieg. «Spannend ist, wie man runterkommt», sagt Barbara Abegglen und lacht. Man könnte dazu die Bahn nehmen. Sie aber schwingt sich auf ihren Schlitten und steuert elegant zwischen den Toi-Toi-Klos hindurch.
Nicht jeder der 19'500 Zuschauer kommt so grazil den Berg hinunter. Wer noch laufen kann, kann sich auch zu Fuss auf die Piste machen – unterwegs warten etliche Bars. Obwohl die Offiziellen dem Wildwuchs früherer Jahre, als in jedem Stall noch schnell ein Tresen aufgestellt wurde, einen Riegel geschoben haben.
In der «Wäschbar» findet sich immer eine Mitfahrgelegenheit. Zu zweit auf dem Schlitten ist es sowieso lustiger, locken ein paar Frauen von hier. Es beginnt eine Fahrt in die Nacht. Manchmal überholen aus der Dunkelheit die Schneemobile. Und irgendwo wartet eine Stelle, so eisig und abschüssig, dass kein Schlitten ohne Sturz vorbeikommt. Natürlich verraten die Einheimischen das nicht. Man merkt es dann schon selber: Wer es vom Lauberhorn heil hinunterschafft, dem macht vielleicht auch Omikron nicht mehr ganz so grosse Angst.