Reha-Boom
Die Schweiz kämpft gegen das Altern

90'000 Menschen suchen pro Jahr eine Reha-Einrichtung auf. Was nach Steigerung der Gesundheitskosten klingt, ist letztlich die Folge von Sparmassnahmen.
Publiziert: 02.11.2019 um 23:25 Uhr
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Aktualisiert: 03.11.2019 um 09:20 Uhr
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Die Schweiz ist im Reha-Boom. Jedes Jahr lassen sich mehr Menschen behandeln.
Danny Schlumpf

Schweizer machen Reha. Je älter, desto öfter. Und Jahr für Jahr mehr. Das zeigt eine neue Studie des Bundesamts für Statistik (BFS). Für das Jahr 2017 meldet sie über 89'000 stationäre Reha-Aufenthalte in der Schweiz. Das ist fast ein Drittel mehr als im Jahr 2012. Kostenpunkt: 1,84 Milliarden Franken – eine Steigerung um 15,2 Prozent.

Mehr als die Hälfte der Patienten ist älter als 64: Die Generation der Babyboomer tritt in den ­Ruhestand, und die Lebenserwartung ist gestiegen. Immer mehr Krankheiten führen nicht zum Tod, erfordern aber eine ­intensive Behandlung. Zudem ­leiden Patienten häufiger an mehreren Krankheiten, weshalb es oft mit einem einzelnen Eingriff nicht getan ist – besonders bei Krebserkrankungen ist dies der Fall. Das Ergebnis: Reha boomt.

Valens-Klinik beim Zürcher Triemli-Spital

Vor 50 Jahren sah es noch ­anders aus. Da vertrieb man die gebrechlichen Patienten aus dem noblen Kurort Bad Ragaz SG und schickte sie den Berg hinauf in die Höhenklinik Valens.

Heute strahlt das Zentrum über den Kanton St. Gallen hinaus. Im neuen Jahr werden die Kliniken Valens die appenzellische Reha-Einrichtung Gais übernehmen. Und beim Zürcher Triemlispital richten sie eine neue Klinik ein, die 2023 in Betrieb geht. CEO Till Hornung (48): «Mit dem Projekt in Zürich kommen wir noch ­näher zu Patienten und Spitälern und bieten wohnortsnahe Rehabilitation.»

Die Spitäler freut das. Denn seit Einführung der Fallpauschalen 2012 rentieren Patienten nicht mehr, die sich länger bei ihnen aufhalten. Drei Viertel der Reha-Patienten kommen direkt aus ­einem Akutspital. Auch das treibt den Reha-Trend an.

Rappelvolle Klinik

Rehabilitation wird verordnet, um kranken oder verunfallten ­Patienten die Rückkehr in einen selbstbestimmten Alltag zu ermöglichen. Sie bezieht über medizinische Massnahmen hinaus auch soziale Aspekte mit ein. Und sie hat nichts mit einem Erholungsurlaub zu tun, wie ein Besuch von SonntagsBlick in der rappelvollen Klinik Valens zeigt.

Alle 150 Betten sind besetzt – bis um 6 Uhr morgens. Dann beginnt der Reha-Tag. Patienten mit chronischen Schmerzen und Frakturen werden von Therapeuten in den beiden Bädern bei intensiven Wassertherapien angeleitet.

Im Trainingszentrum stehen Dehn- und Kraftübungen für Menschen mit Multipler Sklerose (MS) auf dem Programm. Im Robotikraum unterstützen Hightech-Maschinen die Aktivierung von Patienten mit schweren Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats.

«Patienten befähigen, unabhängig Alltag zu meistern»

«Wir decken die gesamte Behandlungskette ab, von der Frührehabilitation bis zur ambulanten Behandlung», sagt Kurt Luyckx (49). Er ist der Leiter des 90-köpfigen Therapeutenteams, das Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Neuropsychologie, Ernährungsberatung und berufliche Rehabilita­tion anbietet – ein umfassendes Programm.

Immer stärker greifen die Therapeuten dabei auch auf Technik zurück. Luyckx: «Die Digitalisierung und besonders Entwicklungen im Bereich der Robotik ergänzen unsere Therapien nachhaltig.» Und dies im doppelten Sinn: Roboter wirken auf den Bewegungsapparat der Patienten ein, aber die Patienten gehen auch aktiv mit der Technik um, nutzen Computer zur Optimierung ihres Trainings – mit dem Ziel, ihre Selbständigkeit zu fördern.

«Das ist der Kern jeder Rehabilitation», sagt der Chefarzt Neurologie, Roman Gonzenbach (42). «Es geht darum, die Patienten wieder zu befähigen, möglichst unabhängig den Alltag zu meistern.» Entscheidend sei dabei die Motivation. «Hier wird niemand im Bett auf die Sonnenterrasse geschoben. Eine erfolgreiche Rehabilitation setzt Einsatzbereitschaft und den Willen voraus, beständig an sich zu arbeiten.»

Insgesamt 850 Mitarbeiter

Die Kliniken Valens decken ein breites Spektrum ab: In ihre Einrichtungen kommen Patienten nach einem Sport- oder Arbeitsunfall, nach einem operativen Eingriff am Bewegungsapparat oder bei ­einer Schädigung des Nervensystems. Auch Krebspatienten lassen sich in Valens behandeln, Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen oder chronischen Lungenerkrankungen sowie ältere Patienten, die vermeiden wollen, pflegebedürftig zu werden. Insgesamt 850 Mitarbeiter fördern – und fordern sie.

«Es ist ziemlich hart», sagt Markus Seifert (53). Mit 30 Jahren ist der Bündner an MS erkrankt. Es ist sein fünfter Aufenthalt in Valens. «Früher hiess es: Nur nicht zu viel bewegen!» Heute verlange man das Gegenteil: «Die Tage sind vollgepackt mit intensivem Programm», darunter besonders viel Schwimmen, Physiotherapie, Krafttraining – mit dem Ziel, Seiferts Leistungsfähigkeit so weit wie möglich zu erhalten. Am Abend falle er ­jeweils nudelfertig ins Bett. «Aber dieses harte Training zahlt sich aus.» Das zeige sich jeweils nach der Rehabilita­tion. «Ich kann wieder besser laufen, habe mehr Kraft und eine bessere Koordination.»

Für den Patienten Seifert sind die Reha-Aufenthalte ein Segen. Doch der Segen kommt nicht gratis. «Wir stellen einen Kostenanstieg zulasten der Prämienzahler fest», sagt Matthias Müller vom Krankenkassenverband Santésuisse. «Diese tragen mittlerweile Kosten von jährlich 600 Millionen Franken allein für Reha-Aufenthalte.» Entsprechend genau schauen die Kassen bei den Kostengutsprachen hin. Waren früher mehrmonatige Reha-Aufenthalte normal, sind heute drei Wochen Standard.

«Investitionen in die Rehabilitation zahlen sich aus»

Pius Zängerle, Direktor des Branchenverbands Curafutura: «Viele Patienten können bereits im Rahmen des statio­nären Spitalaufenthaltes verstärkt aktiviert werden.» Dies trage zur Verkürzung des anschliessenden Rehabilitationsaufenthalts bei.

«Die Kosten werden steigen», sagt Professor Simon Wieser (57), Gesundheitsökonom an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Aber für die Gesellschaft sei das kein Verlustgeschäft. «Investitionen in die Rehabilitation zahlen sich durch eine bessere Gesundheit der Bevölkerung aus.»

Denn Reha ist auch ein Kostensenker. Offensichtlich ist das bei der erfolgreichen ­Wiedereingliederung in die ­Arbeitswelt. Ältere Menschen, die dank Reha länger selbständig leben können, weniger Arztbesuche und weniger Medikamente brauchen, zählen in der Gesamtrechnung ebenfalls positiv.

Jedes Jahr verbringen Schweizer zwei Millionen Tage in knapp 100 Reha-Einrichtung des Landes. Sie erhalten Behandlungen auf weltweitem Spitzenniveau. Wie gesagt, das hat seinen Preis. Und doch: Reha rechnet sich.

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Reha rechnet sich

Als ob die Diskussion über explodierende Gesundheitskosten nicht schon aufregend genug wäre, vermeldet das Bundesamt für Statistik jetzt die Ankunft eines Reha-Schnellzugs, der mit Volldampf durch die Schweiz rast: Seit 2012 haben die stationären Reha-Aufenthalte um ein Drittel zugenommen.

Was wächst, das kostet. In diesem Fall sind es 1,8 Milliarden Franken pro Jahr.

Natürlich gibt es auch im Bereich der stationären Reha Sparpotenzial. Das aktuelle Tarifsystem erfasst zum Beispiel keine neuen Behandlungsmethoden. Innovative, kostendämpfende Lösungen werden also nicht vergütet – eine Änderung tut not. Auch ein weiterer Ausbau der ambulanten Behandlungen kann Kosten senken.

Soll das alles aber bei gleichbleibender Qualität geschehen, muss auch der Bundesrat seine Hausaufgaben machen und endlich klar definieren, was Reha ist. Noch immer gibt es eine stattliche Zahl von Einrichtungen, die mit dem Reha-Signet werben, in Tat und Wahrheit aber nichts anderes als Wellnesszentren sind. Sie drücken zwar die Preise, vor allem aber drücken sie die Qualität.

Diese Qualität entscheidet letztlich über den Behandlungserfolg. Und gerade im Reha-Bereich ist er von volkswirtschaft­licher Bedeutung.

Arbeitstätige, die wieder in ihren Beruf zurückkehren, Pensionäre, die nicht ins Pflegeheim müssen – das sind nicht nur individuelle Erfolgsgeschichten, es sind auch handfeste Einsparungen.

- Danny Schlumpf

Danny Schlumpf, Wirtschaftsredaktor.

Als ob die Diskussion über explodierende Gesundheitskosten nicht schon aufregend genug wäre, vermeldet das Bundesamt für Statistik jetzt die Ankunft eines Reha-Schnellzugs, der mit Volldampf durch die Schweiz rast: Seit 2012 haben die stationären Reha-Aufenthalte um ein Drittel zugenommen.

Was wächst, das kostet. In diesem Fall sind es 1,8 Milliarden Franken pro Jahr.

Natürlich gibt es auch im Bereich der stationären Reha Sparpotenzial. Das aktuelle Tarifsystem erfasst zum Beispiel keine neuen Behandlungsmethoden. Innovative, kostendämpfende Lösungen werden also nicht vergütet – eine Änderung tut not. Auch ein weiterer Ausbau der ambulanten Behandlungen kann Kosten senken.

Soll das alles aber bei gleichbleibender Qualität geschehen, muss auch der Bundesrat seine Hausaufgaben machen und endlich klar definieren, was Reha ist. Noch immer gibt es eine stattliche Zahl von Einrichtungen, die mit dem Reha-Signet werben, in Tat und Wahrheit aber nichts anderes als Wellnesszentren sind. Sie drücken zwar die Preise, vor allem aber drücken sie die Qualität.

Diese Qualität entscheidet letztlich über den Behandlungserfolg. Und gerade im Reha-Bereich ist er von volkswirtschaft­licher Bedeutung.

Arbeitstätige, die wieder in ihren Beruf zurückkehren, Pensionäre, die nicht ins Pflegeheim müssen – das sind nicht nur individuelle Erfolgsgeschichten, es sind auch handfeste Einsparungen.

- Danny Schlumpf

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