Weisse Rosen stehen auf dem Boden, Kerzen, eine quietschgelbe Plastikente mit Sonnenbrille. Sie erinnern an die kleine Chayenne (†6). Das Gras, auf dem Blumen und Kerzen stehen, ist braun – ausgetrocknet von der Hitze, die das kleine Mädchen das Leben kostete.
Dramatische Szenen spielen sich am Dienstag beim Campingplatz La Piodella in Muzzano TI ab. Gegen 20 Uhr rennen drei Mädchen schreiend vom Parkplatz zu ihrer Mutter. Gerade haben sie ihre jüngste Schwester gefunden, leblos liegt die Kleine im Auto der Familie. Die Mutter versucht, das Mädchen wiederzubeleben. Ohne Erfolg. Chayenne ist tot, gestorben an tödlicher Überhitzung, auch Hyperthermie genannt.
Zurück bleiben quälende Fragen: Warum war Chayenne allein im Auto? Schlief sie, als Mutter Anja S.* (40) mit ihren Töchtern von einem Wanderausflug zurückkam? Vergass Anja S. ihr Töchterchen im Auto, in dem es bis zu 45 Grad heiss wurde? Versuchte Chayenne, sich zu befreien, das Auto zu öffnen? Oder starb sie im Schlaf?
Antworten sucht jetzt die Staatsanwaltschaft.
Die Mutter ist verzweifelt. Drei Tage lang musste sie im Spital behandelt werden. Unendlich ist ihr Schmerz, unendlich ihre Trauer, dass sie für den Tod ihrer Kleinsten verantwortlich ist.
Dabei hatte alles so glücklich begonnen.
Im September 1999 heiratet Anja Philipp S.* Sie kommt aus Suhl im deutschen Osten, einer Kleinstadt mit Dutzenden Plattenbauten. Er ist Schreiner, hat zusammen mit einem Kollegen einen Betrieb im Thurgau. Es ist eine Liebesheirat, die beiden bekommen vier Töchter. «Das Familienleben war immer harmonisch», erinnert sich ein Freund der Familie. «Sie waren glücklich miteinander. Es gab nie Probleme oder Streit.» Die Familie lebt in einem grossen Bauernhaus, gleich neben der Schreinerei des Vaters. Er vergöttert seine Kinder, baut ihnen einen grossen Spielplatz rund um das Haus. «Anja kümmerte sich hervorragend um die Kinder», sagt der Freund. Sie beginnt, in einem Fitnessstudio in der Kinderbetreuung zu arbeiten, kann ihre eigenen Kinder zur Arbeit mitnehmen.
Das Glück scheint perfekt, zumindest nach aussen. Doch dann, so erzählt der Freund der Familie, habe sich Anja verliebt. «Sie hatte eine Affäre, ihr Mann kam dahinter und reichte die Scheidung ein.» Von einem Tag auf den anderen zerbricht die Familie. Es beginnt ein schrecklicher Scheidungskrieg. Die Mutter schwärzt den Vater bei den Behörden an, sagt, er würde seine Töchter «anfassen». Sogar die Polizei muss ausrücken, beschlagnahmt ein Gewehr, mit dem der Vater auf Tontauben schiesst. Er erhält ein Kontaktverbot, darf seine Töchter fast ein halbes Jahr nicht sehen. «Es ging ihm elend, die falschen Anschuldigungen lasteten schwer auf ihm», sagt der Freund.
Doch die Vorwürfe lassen sich nicht erhärten. Der Vater darf seine Kinder wieder sehen.
Jetzt wollte er die Ferien mit ihnen verbringen, hätte Anja S. nach einer Woche auf dem Campingplatz ablösen sollen. Sie war bereits fünf Tage lang mit ihren Kindern in Muzzano. Am sechsten Tag passierte das unfassbare Unglück.
Wie sehr die Mutter die Ferien genoss, zeigt auch ein Bild, das sie auf Facebook postete – am Dienstag, um 17.32 Uhr, als ihre Kleinste offenbar schon im Auto lag. Sie hat das Bild selbst aufgenommen, es zeigt ihre Beine, die lässig über die Reling eines kleines Boots geschwungen sind. Anja S. versah das Bild mit einem Smiley mit Sonnenbrille – und dem Wort «warm».
Gut zweieinhalb Stunden später fand sie ihre Tochter tot im Auto.
Am Freitag kehrte Philipp S. mit seinen drei verbleibenden Töchtern zurück in den Thurgau. Der Tod ihrer Kleinsten hat die Eltern nicht versöhnt – im Gegenteil. «Er wollte mich in die Psychiatrie einweisen lassen», sagt die Mutter. «Und er will nicht, dass ich zur Beerdigung komme!» Vater Philipp sagt, das Care-Team müsse darüber entscheiden. «Ich muss mich jetzt um die Kinder kümmern», sagt er zu SonntagsBlick.
Anja S. konnte das Spital am Freitag verlassen. Sie reiste mit ihren Eltern ab. Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Immer dann, wenn der Verdacht besteht, dass Eltern ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben, ermitteln die Behörden von Amtes wegen. Ob sie Anklage erheben, ist offen.
Ebenso offen ist, ob Anja S. auch ihre anderen drei Töchter verliert. Das Scheidungsverfahren liegt beim Bezirksgericht Weinfelden. Der Polizeirapport aus dem Tessin wird dem Gericht und den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) zugestellt. Sie müssen entscheiden, ob Anja S. psychisch und physisch in der Lage ist, für ihre Töchter zu sorgen.
Nach den Ferien wäre Chayenne in die erste Klasse gekommen. Daheim in Wilen TG steht ihr Schulthek parat. Eine Nachbarin, deren Tochter mit Chayenne in die Schule gehen sollte, ist untröstlich: «Ich kann es nicht fassen, dass sie in diesem Alter sterben musste.»