Adolf Muschg (84) im Gespräch mit Yaël Meier (18)
«Man muss auch sexuell Karriere machen»

Schriftsteller Adolf Muschg (84) und Bloggerin Yaël Meier (18) über Instagram, Metoo und Radio Beromünster.
Publiziert: 30.12.2018 um 11:16 Uhr
1/6
Yaël Meier (18) ist Redaktorin und Kolumnistin bei der Blick-Gruppe und ist auf Instagram aktiv.
Foto: JESSICA KELLER
Interview: Reza Rafi

Adolf Muschg (84), ein leidenschaftlicher Debattierer, gilt als Seismograf der Gesellschaft. Die Journalistin Yaël Meier (18) hat ihr Leben noch weitgehend vor sich. Protokoll einer Begegnung.

Herr Muschg, 2019 ist der 
«Summer of Love» 50 Jahre her. Wo waren Sie damals?
Adolf Muschg: An einem Hotspot: in Amerika. Es war die Zeit der 
Vietnamproteste und von Woodstock. An unserer Uni im Staat New York führte das radikale Black Power Movement grosse Aktionen durch. Ich wurde in den USA politisiert.

Also relativ spät. 20 wurden Sie bereits im Jahr 1954.
AM: Das war die Zeit, als ich mich wacker militärisch schlug. Und weit, weit entfernt von jeder Politik war. Ich war braves Einzelkind und Witwensohn.

Frau Meier, wie ist die Welt der 18-Jährigen heute?
Yaël Meier: Sie ist recht geprägt von den sozialen Medien. Alles läuft schnell. Als meine Eltern jung waren, machte man eine Lehre und blieb dort, wo man aufwuchs. Heute bekommen wir alles von der Welt in Echtzeit mit.
AM: In meiner Jugend war Nachkriegszeit. Die Schweiz schien noch kein reiches Land. Wenn man zur Avantgarde gehören wollte, hörte man Jazz. Auf Radio Beromünster war damals das «Bluemete Trögli» ein Markenzeichen. Wissen Sie, was das war?
YM: Nein.
AM: Volkstümliche Sendungen, die immer noch den Geist der Landi, von Heer und Haus atmeten. 
Die junge Alternative war der Jazz.

Das Radio war für Sie das Fenster zur Welt?
AM: Nicht nur für mich! Ein Schulfreund sang mir ein Lied von Frank Sinatra vor und brachte mir bei, dass «Let me stay in your arms» nicht «Lass mich in deinen Armen stehen» heisst.

Frau Meier, hören Sie Radio?
YM: Selten.

Herr Muschg, wissen Sie, was 
Instagram ist?
AM: Ich ahne es. Aber ich kopple mich so weit wie möglich von allen sozialen Medien ab. Ich trampelte per Zufall in Facebook hinein, weil ich eine Adresse in Alaska gesucht hatte. Seither bin ich im System und komme nicht mehr raus. Ich stehe nicht gerne unter dem Auge des grossen Bruders Marketing.
YM: Das wären wir alle gern, ist aber leider nicht möglich!
AM: In Grenzen schon.

Frau Meier, Sie haben auf Instagram 12000 Follower. Den Jungen gehts heute nur noch um die Zurschaustellung des eigenen Status, stimmts?
YM: Das ist eine Unterstellung. Natürlich ist Instagram sehr oberflächlich. Doch kann es auch, wie bei mir, beruflich wichtig sein. Aber klar, es geht darum, wie viele Likes man hat.
AM: Man sammelt Punkte! Wie im Bildungswesen oder an der Ladenkasse.
YM: Es ist schade, aber das ist heute nun mal so.
AM: Sie geben Daten preis und bekommen sicher Angebote, nach denen Sie nicht gefragt haben. Aus der Person wird ein Kundenprofil. Das brauche ich nicht.

Sorgen Sie sich um Datenschutz?
YM: Eher wenig. Es ist zwar nicht erlaubt, dass Daten geklaut werden, aber jeder weiss, dass es dennoch gemacht wird. Der einzige Weg, sich gegen Datenmissbrauch zu schützen, wäre, sich ganz aus den sozialen Medien zurückzuziehen. Aber …

… das wäre der soziale Tod?
YM: So könnte man es nennen: der soziale Tod.
AM: Für mich wäre der soziale Tod, wenn ich da mithalten müsste!
YM: Ich würde manchmal auch gerne in einer Zeit aufwachsen, in der es keine sozialen Medien gibt.
AM: Wenn Sie viele Follower haben, haben Sie sich gut verkauft – auf den Verkauf läuft es hinaus. Ich habe mal in der NZZ gelesen, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens mit maximal 150 Leuten eine Beziehung haben kann, in dem Sinne, dass es ihm wehtut, wenn es dem anderen wehtut, und dass es ihn freut, wenn es denn anderen freut. Das entspricht der Grösse der alten Horde. Evolutionär gesehen leben wir noch in Höhlen.

Herr Muschg hat vorhin von den bewegten Zeiten erzählt …
AM: Die kamen bei mir erst lange nach 18!

Frau Meier, was beschäftigt Sie ausser Social Media und Likes sonst noch?
YM: Es ist ein Vorurteil, dass wir unpolitisch sind. Wir reden über Politik, über Zukunft, über alles, was uns interessiert.
AM: Dies aber wieder in den sozialen Medien!
YM: Wir haben auch ein Aussen­leben, Herr Muschg. Als Sie 18 waren, waren Sie ja ebenfalls weniger an Politik interessiert.
AM: Aber Instagram sind ja vor allem Bilder. Man tauscht da kaum Meinungen aus, und wenn, dann höchstens in einer Bubble, in der alle gleicher Meinung sind.

Was beschäftigt denn die Jungen von heute?
YM: Der Klimawandel ist ein grosses Thema. Aber auch die Zukunft der internationalen politischen Verhältnisse. Ich war eben in Paris, da haben wir über die Gelbwesten diskutiert.

Das tönt doch vernünftig, Herr Muschg?
AM: Man muss unterscheiden zwischen privilegierten Ländern wie der Schweiz oder Japan und Ländern mit 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit wie Spanien. Dass sie dort andere Politiker wählen, muss man verstehen. Wie weit ist denn Rassismus bei euch ein Thema?
YM: Viele haben das Gefühl, dass Rassismus in der Schweiz sicher weniger ein Problem ist als in anderen Ländern. Darum redet man auch weniger darüber. Wir verhalten uns selber auch nicht rassistisch anderen gegenüber.
AM: Das müssten aber andere beurteilen.
YM: Vielleicht. Was mich mehr beschäftigt, ist die #MeToo-Debatte über die Gleichstellung.

Das kannten Sie früher nicht, Herr Muschg, oder? 1968 war ja auch eine Macho-Bewegung.
AM: Was die Frauen damals bestritten hätten. Aber MeToo ist für mich nur schon ein sprachliches Problem: «Me too», englisch für «ich auch», war für mich immer ein Ausdruck des Konformismus: Wer immer «ich auch!», «ich auch!» ruft, ist in meinen Augen ein armer Tropf. Im Grunde ist das eine kleinkindliche Art.
YM: Gut, Sie gehen jetzt von der wörtlichen Bedeutung aus ...
AM: Das gehört zu meinem Beruf. So gesehen hat die MeToo-Bewegung für mich etwas Identitäres, Provinzielles und entschieden Spielfeindliches. Wenn Sie sich die
Erlaubnis zu einem Flirt erst vertraglich abholen müssen ...
YM: ... kommen Sie, das sind jetzt aber Extremfälle!
AM: Mag sein. Aber wenn man sich ansehen muss, wie Woody Allen, der traurige Meister des jüdischen Witzes in New York, von MeToo für sein Privatleben zum Monster aufgebaut und als Künstler exkommuniziert wird – da wird nicht nur dem Mann das Lachen ausgetrieben, sondern einer ganzen Kultur.

Sie meinen den Fall von Christina Engelhardt, die sagt, dass sie als Minderjährige mit Allen und seiner damaligen Frau Mia Farrow Sex gehabt hätte.
AM: Jetzt taucht wieder eine Dame auf und benützt die Hitze des Skandals, um daran ihr Süppchen zu kochen, während Amazon Allens neuen Film scheinheilig auf Eis legt. Das ist totalitär und der wahre Skandal!
YM: Aber wenn Engelhardts Vorwürfe stimmen?
AM: Was heisst hier Vorwurf? Das Kritische ist doch, dass die Privatsphäre durch das Netz zu einem Markt unappetitlicher Geschäfte geworden ist.
YM: Mag sein. Aber die Gleichstellungsdebatte ist wichtig, und hier spielen die sozialen Medien eine bedeutende Rolle! Leute können sich über ein Thema austauschen, das früher tabu war.

Frau Meier vertritt vielleicht die erste Generation, bei denen Frauen dieselben Chancen haben, CEO oder Bundesrätin zu 
werden. Das ist doch schön, Herr Muschg?
AM: Haben Sie das wirklich?
YM: Ich sage und hoffe: Ja. Und zwar genau wegen solcher Bewegungen wie MeToo, die Sie kritisieren. Ich finde gut, dass darüber geredet wird.
AM: Klar. Es kommt nur darauf an, wie.
YM: Bei mir kommt noch dazu: Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen. Und ich fühlte mich ihnen immer gleichgestellt. Ich wollte mich immer mit den Jungs messen.

Gilt diese Ebenbürtigkeit unter den Geschlechtern auch im Ausgang und unter den Kollegen?
YM: Wir sind eine sehr offene ­Generation, das gilt auch für die Sexualität. Wir reden offen darüber und gehen offen damit um. Das Prinzip «Kein Sex vor der Ehe» gilt bei uns jedenfalls nicht mehr.
AM: Mich stört, dass auch beim Sex Punkte gesammelt werden. Auch hier gilt die Performance, das Leistungsprinzip. Man muss auch sexuell Karriere machen.
YM: War das bei Ihnen anders?
AM: Das Halbdunkel der Intimität war auch ein Schutz – der Zweifel, die Unsicherheit,
das Geheimnis gehörten zur Realität der Liebe. Heute muss sie für die Medien gleich präsentabel sein, und auch noch transparent. Zum Glück behält die Natur ihre älteren Rechte. Da bleibt die Fortpflanzung ein wahres Abenteuer – ein Wagnis auf Leben und Tod.

Was denken Sie, Herr Muschg: Haben es die Jungen heute einfacher?
AM: Nein. In meiner Jugend hat die Zukunft weit offen ausgesehen, und schrittweise erschwinglich. Sie war noch kein erbarmungsloser Wettbewerb um den eigenen Status und das soziale Überleben. Wir glaubten früher immer noch, für ­einen grossen, gemeinsamen Entwurf zu leben: auch der ist heute ­einem stillen Defaitismus gewichen. Wie viel Ausbeutung unserer Ressourcen verträgt es noch? Da lautet das Rezept: Rette sich, wer kann – so lange wie möglich. Nach uns die Sintflut – aber bitte erst nach mir.

Frau Meier, lebt Ihre Generation umweltbewusst?
YM: Wir geben uns Mühe, aber es ist schwierig: Man kann grenzenlos konsumieren, und alle wollen konsumieren.
AM: Warum wollen eigentlich alle konsumieren?
YM: Eine gute Frage. Man sieht den Konsum zum Beispiel in den sozialen Medien. Dort findet man auch Vorbilder für diese Haltung.

Man will über den Konsum zum System gehören?
YM: Ja, vielleicht. Wenn man 300 Franken für ein paar Schuhe ausgibt, ist das heute schon fast normal. Nachhaltig ist das nicht. Aber das Bewusstsein für die Begrenzung der Ressourcen ist vorhanden. Trotz des Drucks, zu konsumieren und Karriere zu machen.
AM: Der Druck an diesem Tisch ist erträglich. Wenn es immer so wäre, wäre es schön. 

Adolf Muschg

Adolf Muschg (84) gehört zu den wichtigsten Schriftstellern deutscher Sprache. 
Zu seinem mehrfach preisgekrönten Werk gehören «Im Sommer des Hasen» (1965), «Albissers Grund» (1974) und «Der weisse Freitag» (2017). Der Ex-ETH-Literaturprofessor lebt mit Gattin Atsuko Kanto in Männedorf ZH. 

Adolf Muschg (84) gehört zu den wichtigsten Schriftstellern deutscher Sprache. 
Zu seinem mehrfach preisgekrönten Werk gehören «Im Sommer des Hasen» (1965), «Albissers Grund» (1974) und «Der weisse Freitag» (2017). Der Ex-ETH-Literaturprofessor lebt mit Gattin Atsuko Kanto in Männedorf ZH. 

Yaël Meier

Yaël Meier ist Redaktorin und Kolumnistin bei der BLICK-Gruppe und Schauspielerin. Die 18-Jährige präsentiert sich auf der Plattform Instagram, dort stellt sie Reiseaktivitäten, jugendliches Nachtleben und die Facetten zeitgenössicher Mode zur Schau. Sie hat gut 12000 Follower und lebt in Zürich. 

Yaël Meier ist Redaktorin und Kolumnistin bei der BLICK-Gruppe und Schauspielerin. Die 18-Jährige präsentiert sich auf der Plattform Instagram, dort stellt sie Reiseaktivitäten, jugendliches Nachtleben und die Facetten zeitgenössicher Mode zur Schau. Sie hat gut 12000 Follower und lebt in Zürich. 

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?