Abgehörte Schweizer Mafia-Bosse
«Dieses Unternehmen gehört uns!»

Seit 2008 hatten Ermittler aus der Schweiz und Italien die Treffen der Thurgauer ‘Ndrangheta-Società abgehört. Die Protokolle zeigen, wie sich das organisierte Verbrechen in der Schweiz breitmacht.
Publiziert: 18.10.2015 um 15:03 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:35 Uhr
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Verbindungsmann Antonio N. drohen 16 Jahre Haft. Er vertrat Mafiaboss Oppedisano.
Von Cyrill Pinto

Jede Woche fahren Busse der Ostschweizer Bus­unternehmen G.* Bus, N.* Reisen und C.* Reisen nach Süditalien. Zur Expo in Mailand bieten sie Extrakurse an. Und auch Pilgerreisen zum bosnischen Wallfahrtsort Medjugorje stehen auf ihrem Fahrplan. Die Firmen gehören auf dem Papier unbescholtenen Italienern, die in der Schweiz wohnen. Es sind Strohmänner. Denn die Firmen werden von der kalabrischen Mafia kontrolliert, der ‘Ndrangheta. Dies zeigt eine Anklageschrift der italienischen Justiz. Das über 700 Seiten schwere Protokoll der Schweizer Mafia-Tätigkeit liegt SonntagsBlick vor. Es stützt sich auf den Lauschangriff im Boccia-Club in Wängi TG und auf abgehörte Telefongespräche zwischen den Frauenfelder Bossen.

Mehrmals sprechen dort die Mafiosi über ihre Schweizer Firmen. «Mich hat die Botschaft des Busfahrers von G. erreicht … sie müssen die Preise erhöhen», sagt Antonio N.* (66) laut Abhörprotokoll zum damaligen Boss Raffaele M.* (52). Dieser antwortet: «Ich muss über solche Sachen Bescheid wissen, sie müssen verstehen, dass wir alles wissen müssen.» Und: «Sie haben den Bussen den Namen gegeben. Aber wem gehören sie? Uns.»

Für die Publizistin und Mafia-Expertin Petra Reski (57) ist der Fall klar: «Die Schweizer Busunternehmen gehören auf jeden Fall zur Mafia.» Sie dienten der ‘Ndrangheta vor allem zur Geldwäsche.

Antonio N. wartet seit Sommer 2014 in Italien auf seinen Prozess. Raffaele M. wohnt in der Nähe von Wil SG und ist auf freiem Fuss.

Boss sitzt in Italien

Die Firma G.* Bus im Thurgau wurde 1996 ins Handelsregister eingetragen. Offizieller Besitzer ist Vincenzo G.* (56). In Italien ist er mehrfach vorbestraft: 1989 wurde er wegen illegalen Waffen- und Muni­tionsbesitzes verhaftet, 1992 verurteilte ihn ein italienisches Gericht wegen Scheckbetrugs zu einer Geldstrafe. 1993 warfen ihm italienische Ermittler vor, zusammen mit seinem Bruder und drei weiteren Männern aus der Schweiz mit Kokain und Waffen gehandelt zu haben. 2001 war er in Giftmüllhandel verwickelt, 2012 in Urkundenfälschung.

Vincenzo G. ist zwar nicht Mitglied der Frauenfelder Mafia­zelle, aber Mitglied der ‘Ndrangheta: 2011 wurde er von der Polizei in Kalabrien als einer der 100 gefährlichsten Mafiosi in Italien ein­gestuft und verhaftet. Seine Geschäfte in der Schweiz werden seither von den drei Mit­gesellschaftern weiter­geführt.

Aufgeflogen ist der Schweizer Ableger der kalabrischen Mafia im Sommer 2014. Sein Sitz ist der unscheinbare Holzanbau des Boccia-Clubs in Wängi, wo sich die Mafiosi seit den 1970er-Jahren regelmässig getroffen hatten.

Seit 2008 hatten Ermittler aus der Schweiz und Italien die Treffen der Thurgauer ‘Ndrangheta-Società abgehört. Das ebenso umfang- wie aufschlussreiche Material führte bisher erst zu zwei Verhaftungen – die Köpfe der Gruppe: Capo di Società, Raffaele A.* (71), und Verbindungsmann Antonio N., der mit dem Mutterhaus in Kalabrien in Kontakt stand. Ihnen wird am kommenden Freitag in Reggio di Calabria (I) der Prozess gemacht. 16 beziehungsweise 14 Jahre Gefängnis drohen ihnen.

Die beiden waren am 22. August 2014 an der Kalabrischen Riviera zu einer Hochzeit eingeladen. In einem Hotel in Marina di Gioiosa Ionica wurden sie um 2.20 Uhr verhaftet. Weitere 16 Mitglieder der Frauenfelder ‘Ndrangheta-Società, bei denen die Bundesanwaltschaft im letzten Herbst Hausdurchsuchungen vornahm, können dagegen ihre Geschäfte in der Schweiz ungestört weiterbetreiben.

Sie sind nach wie vor auf freiem Fuss. Denn die blosse Zugehörigkeit zur Mafia ist in der Schweiz nicht strafbar. Und nach Schweizer Recht wurden ihnen bisher keine konkreten Straftaten nachgewiesen.

Schweizer ermitteln

Bloss nach Italien reisen können sie nicht. Dort droht ihnen der Prozess wegen Mitgliedschaft in einer mafiösen Organisation. So führen sie in der Schweiz weiter ihr unauffälliges Leben, getarnt als Taxifahrer, Bau- oder Fab­rikarbeiter. Strafen drohen ihnen erst, wenn sie die Schweizer Bundesanwaltschaft mit konkreten Delikten in Verbindung bringen kann.

«Wir führen unsere Verfahren weiter», sagt Sprecherin Anna Wegelin. Auch die Zusammenarbeit mit der itali­lienischen Justiz werde weitergeführt. Die Schweizer Mafia-Firmen sind die oberste Spitze eines riesigen Eisbergs. Nach Expertenschätzungen setzte die ‘Ndrangheta 2013 weltweit 53 Milliarden Euro (58 Milliarden Franken) um – vor allem mit Kokain-, Waffen- und Giftmüllhandel sowie Erpressungen.

*Namen der Redaktion bekannt

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