Der Mittwochmorgen beginnt im Bergell mit Traumwetter. Ein Deutschschweizer Ehepaar, vier Deutsche und zwei Österreicher starten gut gelaunt nach dem Frühstück in der Sciora-Hütte (2118 m ü. M.). «Sie marschierten gegen 8.45 Uhr los», sagt Hüttenwart Reto Salis (51). Zwei von ihnen wollten zur Hütte Sasc Furä, die übrigen ins Tal und nach Hause», so Salis.
Alle müssen sie runter ins Bondascatal. Was der Hüttenwart beim Abschiedsgruss nicht ahnt: Er ist möglicherweise der Letzte, der die Wanderer lebend gesehen hat.
Etwa 45 Minuten später bricht vom Cengalo-Massiv eine Bergspitze ab. Vier Millionen Kubikmeter Felsmaterial stürzt Hunderte von Metern in den Abgrund. Eine ungeheure Masse an Fels und Geröll. Es bräuchte 46’000 grosse Lastwagen, um das wegzutransportieren.
Die Erschütterung des Bergsturzes löst ein Beben der Stärke 3 auf der Richterskala aus. Schlammmassen schieben sich in einem 500 Meter breiten Strom fünf Kilometer durch das Bett der Bondasca in Richtung Bondo. Auf ihrem Weg reissen sie zwölf Maiensässe mit. In Bondo werden vier Gebäude zerstört.
Militär setzt zur Suche nach den Vermissten Super Puma ein
Alle 100 Einwohner des Ortsteils werden evakuiert. Von nun an ist er absolutes Sperrgebiet. Am Mittwoch holen Helikopter 32 Wanderer aus dem Tal, gestern wurden weitere 10 in Sicherheit geflogen.
Ein Super Puma überfliegt in der Nacht mit einer Wärmebildkamera das Katastrophengebiet, in der Hoffnung die vermissten Wanderer aufzuspüren. Tags darauf versucht ein anderer Hubschrauber, Handys zu orten. Beides vergebens.
Doris Leuthard verschafft sich persönlich ein Bild der Katastrophe. Die Bundespräsidentin besteigt einen Super Puma, fliegt nach Bondo. Dort fliegt sie mit Heli Bernina über das Gebiet und schaut sich das Berg-Grauen von oben an.
Zürcher Pensionär entkommt knapp der Katastrophe
Sie spricht schliesslich das aus, was keiner bislang zu sagen wagte: «Wenn die Vermissten unter diesem Geröll sind, dann wächst mit jeder Stunde die Wahrscheinlichkeit, dass sie tot sind.»
Paolo da Costa (67), Pensionär aus Zürich, entkam nur knapp der Naturgewalt. Der gebürtige Italiener macht Ferien in der alten Wassermühle direkt am Bach. «Ich hörte ein Grollen und ging ans Fenster», sagt da Costa, «da sah ich eine gewaltige Staubwolke. Dann kam aus dem Nichts die Schlammflut direkt auf uns zu.»
Paolo da Costa und seine Ehefrau Barbara flüchteten aus dem Haus. Minuten später erreichten Geröllmassen ihre Bleibe.
Auch Sara Calabrese und Adam Custer (beide 35) steckt der Schrecken noch in den Gliedern. Die beiden Norweger hatten ihr Auto im Tal parkiert und waren über den Pass nach Italien losmarschiert. «Wir sassen in der Sasc-Furä-Hütte fest, wurden gestern evakuiert. Vom Heli aus sahen wir das Ausmass. So viele Autos steckten tief im Schlamm. Wir haben im Wagen unsere Pässe, wissen jetzt nicht, wie wir nach Hause kommen.»
Auch die Bergungsmannschaften sind ratlos
Das geht den Bewohnern von Bondo nicht anders. Vorerst dürfen sie nicht zurück in ihre Häuser. Sie wohnen in der Zivilschutzanlage oder bei Verwandten und Freunden. «Die meisten stehen unter Schock», sagt Renzo Romanoli (55), Landwirt und ehemaliger Gemeindepräsident. «Wir alle fürchten, dass die Situation noch dramatischer werden könnte.»
Die Bergungsmannschaften sind ratlos. «Wir befinden uns in der Akutphase, müssen abwarten und den Berg beobachten», sagt Martin Bühler, kantonaler Einsatzleiter des Amts für Militär und Zivilschutz. «Wir können nicht nach Vermissten graben. Auch die Suchhunde von Redog dürfen nur in die gesicherten Gebiete.»
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