Am Anfang stand die Trennung von ihrem Mann. «Nach der Scheidung bin ich in ein Loch gefallen, konnte nicht mehr richtig schlafen», sagt Regula T.* (66). Der Hausarzt verschrieb der Serviceangestellten Zolpidem, ein starkes Beruhigungsmittel. «Die Pillen wurden zu meinem Freund, sie gaben mir Sicherheit.» Bald kann Regula T. ohne Tabletten nicht mehr einschlafen.
Die zierliche Frau sitzt in einem Besprechungsraum der Privatklinik Meiringen. Die Klinik im Berner Oberland, zwischen Aareschlucht und Brienzersee, ist international bekannt – weil hier Menschen ihre Süchte bekämpfen. Bei Regula T. ist es die Tablettensucht. Über die Jahre verloren die Pillen, die ihr den Schlaf brachten, die Wirkung. Sie erhöhte die Dosis, nahm zwei, dann drei Tabletten jeden Abend. Als sich der Hausarzt weigerte, ihr so viele Rezepte auszustellen, wandte sie sich an eine Psychiaterin. Bald bezog sie die Schlafmittel von beiden gleichzeitig – ohne dass die Praktiker voneinander wussten.
«Ich habe nur mit Medikamenten funktioniert», sagt Regula T. Zuletzt schluckte sie 20 Tabletten pro Tag, nicht nur am Abend, sondern auch am Morgen und Mittag. Bei der Arbeit fehlte sie immer öfter. Sie dachte an Selbstmord. «Ich bin zusammengebrochen. Erst dann konnten mich meine Töchter überzeugen, einen Entzug zu machen.» Der Hausarzt wies sie in die Klinik nach Meiringen ein.
Süchtig nach Schlafmitteln: Rund 280'000 Schweizer können ohne Pillen nicht mehr einschlafen. Besonders gefährlich sind sogenannte Benzodiazepine, enthalten in Mitteln wie Dormicum, Somnium und Zolpidem. Sie docken im zentralen Nervensystem an, lösen Angst, entspannen die Muskeln und fördern so den Schlaf. Der Haken: Sie machen sehr schnell abhängig!
Besonders gefährdet sind Frauen und Ältere: 31,5 Prozent der über 64-jährigen Frauen gaben in einer Studie an, regelmässig zu Schlaftabletten zu greifen. Die Schlafmacher sind der Renner in den Apotheken: Allein im letzten Jahr gingen 7,2 Millionen Packungen über den Ladentisch. 54,5 Millionen Franken wurden so erwirtschaftet. Das Geschäft mit dem Schlaf brummt.
Ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Schweiz leidet unter Schlafproblemen, das sind 1,6 Millionen Menschen, Tendenz stark steigend. Sie wälzen sich nachts im Bett, statt sich im Schlaf zu erholen, sind am Morgen wie gerädert. Mitverantwortlich für die Zunahme der Schlafprobleme ist nach Angaben von Experten unsere 24-Stunden-Gesellschaft. Das Smartphone ist allgegenwärtig, das Abschalten fällt vielen immer schwerer.
Pillen, die den Schlaf zurückbringen, sind da willkommen.
Dabei empfehlen Fachleute, Benzodiazepine nur noch in Ausnahmefällen zu verschreiben. Der Neurologe und ehemalige Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein (69) etwa fordert, die Pillen nur noch in der Palliativmedizin einzusetzen. «Sonst sollten sie nicht mehr verschrieben werden.»
Wettstein weiss aus seiner Tätigkeit in Altersheimen: Schlaf- und Beruhigungsmittel stören den Gleichgewichtssinn bei Senioren, sie stürzen häufiger. Zudem stehen die Pillen im Verdacht, Krankheiten wie Altersdemenz oder Alzheimer auszulösen. Gleichzeitig steigt mit dem Konsum der Tabletten das Risiko für Unfälle im Strassenverkehr.
Volksdroge Schlafmittel: Die Gefahr wird immer noch unterschätzt. Der Weg aus der Abhängigkeit ist lang und beschwerlich. «Ein Benzodiazepin-Entzug geht nur schrittweise und braucht viel länger als etwa ein Alkoholentzug», sagt Michael Soyka (56) von der Klinik Meiringen. Jährlich behandelt der Mediziner und Suchtspezialist mehrere Hundert Abhängige – etwa ein Drittel von ihnen ist medikamentenabhängig. «Ziel ist es, am Ende des Entzugs von Medikamenten frei und psychisch stabil zu sein», erklärt Soyka, der auch Regula T. behandelt.
Sie ist seit acht Wochen in Meiringen. Von Tag zu Tag wurde ihre Pillendosis verringert, ohne dass sie wusste, in welchem Umfang – Blindabbau nennen es die Suchtexperten.
«Am Anfang dachte ich, das funktioniert nicht», sagt Regula T. «Ich war aggressiv, hatte das Gefühl, dass man mich anlog.» Sie protestierte und wollte nach Hause. Als die Ärzte das Mittel ganz absetzen, fällt sie in ein tiefes Loch. «Vier Tage lang habe ich nur geweint.» Dann, eines Nachmittags, gratulierten ihr die Ärzte: Sie sei jetzt ohne Pillen.
Inzwischen kann Regula T. ohne Zolpidem schlafen. Sie nimmt nur noch ein Antidepressivum am Morgen. «Ich bin wacher», sagt sie. «Die Sucht hat mir viel Energie genommen. Die ist jetzt wieder da.»