Für fast 16'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz gibt es nicht jeden Tag eine vollständige Mahlzeit. Die Zahl junger Menschen – vom Kleinkind bis zum 18-Jährigen, die teils unter massiven Entbehrungen zu leiden haben, liegt bei 234'000. Das bedeutet: keine Ferien, kein Platz zum Hausaufgabenmachen, kein Sportverein, keine Geburtstagsfeier!
Jedes zwanzigste Schweizer Kind lebt bereits in Armut, eines von sechs steht kurz davor.
«Kinder, die von Armut betroffen sind, leiden. Sie sind ausgegrenzt und haben schlechtere Entwicklungschancen», sagt Lucrezia Meier-Schatz (64), bis 2015 CVP-Nationalrätin und 25 Jahre lang Geschäftsführerin von Pro Familia. «Die Folgekosten der Defizite sind noch viel grösser. Einige von ihnen belasten später wiederum die Sozialhilfe.»
Die Zahlen, die das Bundesamt für Statistik jetzt kurz vor Weihnachten veröffentlichte, stehen für Menschen, die sich aus Scham verstecken. Gäben sie sich als arm zu erkennen, müssten sie die allgemeine Ächtung fürchten – im Dorf, im Laden, in der Schule.
Familie Bearth in St. Gallen aber bekennt sich zu ihrer Lage: Sie lebt am Rande der Armut. Für sie verwaltet ein Familienbeistand das Geld und bezahlt Miete, Arztbesuche oder andere grössere Summen. 520 Franken, die pro Woche bleiben, müssen für Lebensmittel, Kleider und alle restlichen Ausgaben reichen.
«Vor Weihnachten gehe ich mit Röhrenblick durch die Welt», sagt Amanda Bearth (28), «immer auf der Suche nach einem Geschenk für meinen Sohn. Wir versuchen, ihm etwas Schönes zu bescheren.»
Ihr Mann Daniel (36) verlor vor kurzen wegen wirtschaftlicher Probleme der Firma seinen Job als Zügelmann – nach 13 Jahren. Er sucht eine neue Arbeit.
«Wenn es eng wird, haben wir die Unterstützung meiner Mutter»
Samuel ist zwei Jahre alt. Bis zu seiner Geburt arbeitete die Mutter in einem Altersheim: «Wenn es eng wird, haben wir die Unterstützung meiner Mutter. Sie kauft auch viel für Samuel ein und macht mich auf Aktionen aufmerksam. Aber es ist mir unangenehm, sie um Geld zu bitten.» Amanda Bearth: «Das mache ich nur, wenn es sonst nicht mehr geht.»
Trotz finanzieller Nöte soll es Samuel an nichts mangeln. Daniel Bearth: «Lieber verzichten wir, statt dass es unserem Sohn an etwas fehlt!» Seine Frau ergänzt: «Wir würden unser letztes Hemd für ihn geben.»
Fürs Essen versucht sie, ausgewogen einzukaufen – so gut es geht: «Ich kann Samuel ja nicht jeden Tag Nudeln mit Ketchup auftischen.» Regelmässig geht sie zur Hilfsorganisation «Tischlein deck dich», wo man für einen symbolischen Franken Lebensmittel bekommt, die sonst vernichtet worden wären.
Als ihr Mann noch Arbeit hatte, konnte er manchmal Möbel und Spielsachen vor der Vernichtung retten, die entsorgt werden sollten. So bekam Samuel die Modellautos, mit denen er so gerne spielt. Auch sein Bett wäre beim Sperrgut gelandet, hätten es die Bearths nicht zu Hause aufgestellt. Ferien aber liegen nicht drin. Einen Ausflug mit Freunden mussten die Bearths absagen. Das Geld reichte nicht: «Der Züri-Zoo war einfach zu teuer.»
Wenn die Familie aunahmsweise im Restaurant essen will, wird der Besuch mindestens einen Monat im Voraus geplant. Die Mutter informiert sich über die Preise und rechnet genau aus, wie viel sie vorher ansparen muss.
Die Weihnachtszeit ist besonders schlimm, weil sie mit grösseren Kosten verbunden ist als alle anderen Wochen. Einen Christbaum möchte sich die Familie trotzdem leisten. «Einfach einen kleinen für 20 Franken», sagt Amanda Bearth.
Festtage sind eine Belastung
Die Festtage sind ist auch für Daniel Fuchs (57) in St. Gallen eine Belastung: Mit seiner Frau Martina* (48) und dem gemeinsamen Sohn Tim* hat er rund 3200 Franken im Monat: «An Weihnachten reicht es meist nicht für Geschenke. Mein Sohn ist letzte Woche 19 geworden – wir konnten ihm nichts schenken.» Fuchs: «Jeden Kaffee, den ich in der Stadt trinke, muss ich mir gut überlegen. Auch ob ich den Bus nach Hause nehme oder zu Fuss gehe.» Sein Sohn macht eine Ausbildung als Sanitärinstallateur, mit einem Teil des Lohnes muss er die Familie unterstützen.
«Tim hat etwas Geld für sich. Aber wenn er einen neuen Pullover braucht, gibt es den – statt eines neuen Telefons.»
Nicht immer war das Geld so knapp. Fuchs hat studiert, arbeitete als Buchhändler. Dann machte er sich selbständig. Es folgten Konkurs, Scheidung, Auswanderung und die Rückkehr mit seiner jetzigen Frau aus der Dominikanischen Republik. Vor vier Jahren ging es auch noch mit der Gesundheit bergab: Burnout, Lungenkollaps, dann Panikattacken und Depressionen. Weil ihm eine IV-Rente verweigert wird, bleibt nur die Sozialhilfe.
Caritas-Markt oder Food Care
Familie Fuchs spart, wo es geht. Lebensmittel kommen aus dem Caritas-Markt oder von Food Care. Für zehn Franken kann man sich dort mit Lebensmitteln eindecken, die sonst von Grosshändlern weggeworfen würden. Daniel Fuchs:
«Ich weiss nicht, wann ich mir zum letzten Mal ein Hemd gekauft habe.»
Der grösste Wunsch der Familie ist, Martinas Verwandte in ihrer Heimat wieder mal zu besuchen. «Tim hat seine Halbgeschwister vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen. Bei mir ist es schon zehn Jahre her, seit ich die Schwiegereltern letztmals in den Armen halten durfte», sagt Daniel.
Zur Erfüllung hofft Familie Fuchs nun auf die Wunschkerzen-Aktion der Caritas.
*Namen der Redaktion bekannt
PS: Falls Sie den Familien helfen wollen, schreiben Sie an redaktion@blick.ch. Betreff: Armut.
Update: Die Hilfsbereitschaft der BLICK-Leser ist überwältigend. Wir haben bis Mittag schon 150 E-Mails erhalten - und werden die jetzt nach und nach bearbeiten. Herzlichen Dank!