Am 27. Mai 2015 wurde in Brüssel Geschichte geschrieben: Der damalige Staatssekretär Jacques de Watteville unterzeichnete das Abkommen über den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen (AIA) und beerdigte damit das legendäre Schweizer Bankgeheimnis.
Mit dieser Unterschrift wurden die Schweizer Banken verpflichtet, ab 2018 Kontodaten ihrer euro-päischen Kunden an 28 EU-Mitgliedstaaten zu liefern. Im Gegenzug müssen die EU-Banken den Schweizer Steuerbehörden seit 2018 ebenfalls Kontodaten liefern – und zwar von allen Kunden, die in der Schweiz steuerpflichtig sind.
Angst vor dem automatischen Informationsaustausch
Die Angst vor diesen Meldungen aus der EU hat dazu geführt, dass die kantonalen Steuerverwaltungen in den vergangenen Jahren mit Selbstanzeigen überflutet wurden. Die Steuerverwaltung von Basel-Stadt schätzt, dass ab 2016 rund 80 Prozent der nachdeklarierten Vermögenswerte Liegenschaften im Ausland waren.
Die Basler Finanzdirektorin Eva Herzog (57, SP): «Etwa 90 Prozent der Steuerpflichtigen begründeten die Selbstanzeige mit der Angst vor dem automatischen Informationsaustausch.»
In Zusammenarbeit mit den kantonalen Steuerbehörden hat SonntagsBlick nun Zahlen für die ganze Schweiz ermittelt. Das Ergebnis: Seit 2010 die Möglichkeit der einmaligen straflosen Selbstanzeige eingeführt wurde, haben in der Schweiz 138'092 Steuersünder davon Gebrauch gemacht. Rund drei Viertel der Selbstanzeigen gingen zwischen 2016 und 2018 ein.
Insgesamt wurde dadurch Schwarzgeld in der Höhe von mindestens 44,2 Milliarden Franken nachdeklariert. Bund, Kantone und Gemeinden kassierten mehr als 3,8 Milliarden Franken an Nachsteuern.
«Diese Zahlen sind für mich überraschend hoch», sagt Philipp Zünd (38), Steuerexperte bei der KPMG. Thomas Matter (52), Zürcher SVP-Nationalrat und selbst Banker, sieht das anders: «Die Zahlen müssen relativiert werden. Die 138'000 Selbstanzeigen entsprechen lediglich 2,6 Prozent aller Steuerpflichtigen in der Schweiz.» Ähnliches gelte für nachdeklarierte Vermögenswerte und Nachsteuern.
Ob hoch oder nicht, die zusätzlich generierten Steuereinnahmen würden genügen, die grösste Rollmaterialbestellung der SBB-Geschichte gleich zweimal zu bezahlen – die 59 Doppelstockzüge von Bombardier. Das Stade de Suisse in Bern hätte man damit zehn Mal bauen können.
Die wirklich spannende Frage ist aber: Wenn durch die Angst vor dem Informationsaustausch mit dem Ausland so viel Schwarzgeld offengelegt wird, wie viel verstecktes Vermögen würde zum Vorschein kommen, wenn das Bankgeheimnis auch im Inland fiele – wenn die Schweizer Banken also auch den hiesigen Steuerbehörden Kontodaten liefern müssten?
Secondos als Steuersünder
Steuerexperte Philipp Zünd vermutet, dass es dann noch einmal deutlich mehr Selbstanzeigen gäbe: «Ich glaube nicht, dass jene Steuerpflichtigen, die ihr Geld auf einer Schweizer Bank bunkern, ehrlicher sind als jene, die ihr Vermögen im Ausland haben.» Zünd ist sicher: «Auf Schweizer Banken liegt nach wie vor viel Schwarzgeld.»
Thomas Matter, Urheber der zurückgezogenen Bankgeheimnis-Initiative, widerspricht vehement und betont, es seien in erster Linie Secondos mit Liegenschaften in Italien, Portugal oder Spanien gewesen, die undeklariertes Vermögen offengelegt hätten. Hinzu kämen Franzosen und Deutsche, die ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt, aber den kantonalen Steuerbehörden ihre Heimat-Konten verschwiegen hätten. Matter ist überzeugt: «Die Schweizer sind ehrlicher gegenüber den Steuerbehörden.» Weil das Steuerregime hierzulande vernünftiger sei als im Ausland, habe niemand etwas zu verstecken. «Ich glaube deshalb nicht, dass extrem viel Schwarzgeld zum Vorschein käme, wenn der automatische Informationsaustausch auch im Inland eingeführt würde.»
Wer recht hat, muss vorerst offenbleiben. Seit die Revision des Steuerstrafrechts abgebrochen und die Bankgeheimnis-Initiative zurückgezogen wurde, ist der automatische Informationsaustausch im Inland in Bundesbern kein Thema mehr.