Anthony (8) lebt da, wo Bundesrat Ignazio Cassis (56) aufwuchs. In Sessa TI. Einem Dorf, das heute noch gleich viele Einwohner hat wie vor 200 Jahren – 700. «Sì!», sagt Anthony. Er sei stolz, dass einer, der hier in die Schule ging, jetzt Bundesrat ist.
Zwischen zwei Runden mit seinem Velo erzählt er, was ihn am meisten beeindruckt. Es geht nicht um Politik. Es geht um den Finger. Der fehlt. Diesen Finger habe Cassis damals als Kind hier bei der Schule am Zaun verloren, erzählt Anthony.
Die Via Santa Maria, wo das Unglück passierte, führt zu der wohl wichtigsten Maria in Ignazio Cassis’ Leben: Mariarosa (83) – seiner Mamma.
Mariarosa wuchs im italienischen Bergamo auf, verliebte sich in einen Feuerwehrmann aus Luino (I), zog mit ihm in die Schweiz und gründete hier eine Familie. Ihr Heimatland zu verlassen, sei ihr nicht schwergefallen. «Wissen Sie, wenn man jung ist und verliebt, fürchtet man sich vor nichts», sagt sie.
Mariarosa ist eine liebenswerte Frau, die von sich sagt, ein glückliches Leben gehabt zu haben. Gern erzählt sie, wie ihr Haus immer voller Kinder und wie lebendig, aber stets respektvoll Ignazio als Kind gewesen sei.
Das Telefon läuft heiss
Das Telefon klingelt. Eine ihrer drei Töchter will wissen, wie es der Mamma geht. An der Wand der Stube ein Bild aus Afrika. Mariarosa reist gern. Einmal war sie sogar an der Elfenbeinküste.
Wenn nicht gerade eines ihrer Kinder in den Bundesrat gewählt wird, lebt sie ein ruhiges Leben.
Doch nun klingelt das Telefon fast ununterbrochen.
Verändern werde die Wahl aber nichts an ihrem Leben in Sessa. Diesem Dorf, das ihre Heimat geworden sei. In diesem Land, von dem sie das Gefühl habe, aus dessen Erde zu kommen. An Spannungen zwischen Schweizern und Italienern oder gar Fremdenfeindlichkeit könne sie sich nicht erinnern.
Und doch: In den 60er- und 70er-Jahren, in denen Ignazio Cassis aufwuchs, sei es schlicht undenkbar gewesen, dass ein Kind italienischer Einwanderer Bundesrat werden konnte, sagt Gianni D’Amato, Migrationsforscher der Universität Neuenburg. Zum politischen Zankapfel wurden die Italiener, als Cassis zur Schule ging, in der Dorfmusik spielte und am Sonntag in der Messe diente.
Neun Jahre alt war er, als die Schweiz über die Überfremdungsinitia-tive abstimmte. Der Ton war gehässig. «Artfremdes Gewächs» nannte James Schwarzenbach, der geistige Vater der Initiative, die Italiener. Wäre die Initiative angenommen worden, hätte die Familie Cassis die Schweiz vielleicht verlassen müssen. Gottlob wurde sie abgelehnt! Nirgends war die Ablehnung einer Obergrenze der ausländischen Bevölkerung von maximal zehn Prozent grösser als im Tessin.
Die Italiener polarisieren
Heute ist die Situation umgekehrt. Die Schweiz hat die Italiener längst ins Herz geschlossen. Einzig im Tessin brodelt es. Bei Fragen dazu verwerfen Tessiner die Hände: der Stau, den die Italiener werktags verursachen. Die Jobs, die sie für wenig Geld ausüben!
Es sind die Frontalieri–Italiener, die über die Grenze pendeln, um zu arbeiten –, die den Ärger verursachen. 65'000 sind es täglich.
Auch Cassis hat sich als Nationalrat mit dem «Unmut» über die Frontalieri auseinandergesetzt. Sandro Colonna (67) – der Priester von Sessa – ebenfalls Italiener – weiss: «Diese ständige Sorge um den Arbeitsplatz ist eine Form von Stress für viele Tessiner.» Denn die Realität sieht so aus: Selbst wer im Tessin als Putzfrau arbeiten will, muss sich mit einem Platz auf der Warteliste begnügen.
Die Situation verschärft sich zunehmend. Noch nie gab es in der Schweiz so viele Grenzgänger. Am stärksten wuchs ihre Zahl dieses Jahr im Tessin.
Schimpfen über Grenzgänger
Wie kompliziert alles ist, zeigt sich aber erst abends, beim Aperitivo in Lugano. Ein Tisch, drei junge Tessiner. Alle kennen jemanden, der seinen Job verlor oder keine Stelle findet. Alle schimpfen deshalb über die Frontalieri. Alle fühlen sich als Tessiner. Und alle Biografien verraten, wie fest verbandelt das Tessin mit Italien ist: Einer am Tisch hat eine italienische Mutter, einer ist schweizerisch-italienischer Doppelbürger, die Studentin ist Italienerin.
Ignazio Cassis selber, der sich im Alter von 15 Jahren einbürgern liess, hat seinen italienischen Pass vor der Wahl endgültig abgegeben.
Nichtsdestotrotz: Für Migrationsforscher D’Amato ist die Wahl eines Secondos in den Bundesrat der politische Vollzug eines Wandels, der in der Gesellschaft längst abgeschlossen sei. «Die Schweiz hat sich verändert und wird sich weiter verändern.»
Am Donnerstag um 11.30 Uhr fährt der Extrazug mit dem neuen Bundesrat in Bellinzona ein. Das Tessin wird Cassis feierlich empfangen. Mariarosa Cassis wollte zuerst zu Hause bleiben, weil ihr langes Stehen Mühe bereitet. «Kommt nicht in Frage», sagten die drei Töchter und organisierten kurzum einen Rollstuhl. La Mamma muss doch da sein, wenn der Sohn heimkehrt!