Er ist ein Vorkämpfer der europäischen Integration – und ein guter Freund der Schweiz. Nur wenige Politiker kennen die Befindlichkeiten in beiden Lagern so gut wie der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (76).
Mit SonntagsBlick sprach der Baden-Württemberger über die Verhandlungen zum Rahmenvertrag, die Flüchtlingskrise, rechtsextremistischen Terror und die Klimajugend. Nicht äussern wollte sich der CDU-Politiker über die Nomination seiner Landsfrau und Parteifreundin Ursula von der Leyen (60) für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin.
Herr Bundestagspräsident, wann waren Sie zum letzten Mal in der Schweiz?
Wolfgang Schäuble: Ich bin ja praktisch Nachbar der Schweiz. Vor drei Monaten war ich in der prächtigen Picasso-Ausstellung in Riehen bei Basel. Ich muss fast ein wenig aufpassen, dass ich nicht zu oft in der Schweiz bin.
Die Schweiz liegt mitten in Europa, aber sie ist kein EU-Mitglied. Bedauern Sie das?
Wir kommen in der Zusammenarbeit und im nachbarschaftlichen Verhältnis auch so gut zurecht. Im Übrigen ist es eine Sache der Schweiz zu entscheiden, ob und wann sie Mitglied der EU werden will. Wann immer die Schweiz diese Entscheidung trifft, werden die Verhandlungen nicht sehr schwierig sein. Aber ich war immer schon der Meinung: Wir sollten die Schweiz nicht drängen.
Sie haben die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU stets unterstützt.
Aus meiner Nähe zur Schweiz heraus habe ich immer versucht, in Europa für die Sichtweise der Schweiz Verständnis zu wecken. Das war besonders in Brüssel nicht immer ganz einfach.
Und gerade jetzt werden die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz auf eine harte Probe gestellt. Welche Bedeutung misst man in Brüssel dem Rahmenvertrag bei?
Selbst die Mitgliedstaaten der EU nehmen die Verantwortlichen in Brüssel nicht immer als Vertreter ihrer Interessen wahr. Für Drittländer, selbst wenn sie so eng mit der EU verbunden sind wie die Schweiz, ist das noch schwieriger. Ich vermute, dass die Frage des Rahmenabkommens in der Schweiz als wichtiger betrachtet wird als in Brüssel. Das macht die Verhandlungen für die Schweiz nicht einfacher.
Der Baden-Württemberger Wolfgang Schäuble (76) ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Der CDU-Politiker ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2017 dessen Präsident. 1884 bis 1991 amtete er in der Regierung Kohl als Innen- und Finanzminister. In beiden Funktionen war er auch Mitglied der Regierung Merkel von 2005 bis 2017. Er wäre selbst beinahe Kanzler geworden, wäre er nicht im Jahr 2000 über eine Spendenaffäre in der CDU gestolpert. Seit einem Attentat im Jahr 1990 ist Wolfgang Schäuble querschnittgelähmt. Er ist mit Ingeborg Schäuble (75) verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern.
Der Baden-Württemberger Wolfgang Schäuble (76) ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Der CDU-Politiker ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2017 dessen Präsident. 1884 bis 1991 amtete er in der Regierung Kohl als Innen- und Finanzminister. In beiden Funktionen war er auch Mitglied der Regierung Merkel von 2005 bis 2017. Er wäre selbst beinahe Kanzler geworden, wäre er nicht im Jahr 2000 über eine Spendenaffäre in der CDU gestolpert. Seit einem Attentat im Jahr 1990 ist Wolfgang Schäuble querschnittgelähmt. Er ist mit Ingeborg Schäuble (75) verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern.
Deutschland hat sich stets schützend vor die Schweiz gestellt, wenn der Druck in Brüssel gestiegen ist. Ausgerechnet jetzt hat diese Unterstützung nachgelassen. Was hat sich verändert?
Bei allem Respekt: Ich glaube nicht, dass sich in Deutschland etwas verändert hat. Vielleicht hat sich die Schweiz in der Frage des Rahmenabkommens einfach nicht genügend in die Brüsseler Entscheidungsprozesse hineinversetzt.
Und umgekehrt?
Natürlich ist im Zuge der Brexit-Verhandlungen die Bereitschaft vonseiten der EU, in den Beziehungen mit Drittländern grosszügig zu sein, auch nicht gerade gewachsen. Gleichzeitig weiss ich natürlich auch um die Schwierigkeiten der Schweiz, die innenpolitisch notwendigen Entscheidungen zustande zu bringen.
Dazu gehört auch die Tatsache, dass bei uns das Volk das letzte Wort zum Rahmenabkommen hat. Der Bundesrat muss dies in den Verhandlungen stets mitbedenken. Manchmal scheint es, als ob die europäischen Spitzenpolitiker das vergessen würden.
Die Tatsache, dass das Volk das letzte Wort hat, ist ein begrenztes Argument. Auch die EU-Mitgliedstaaten sind alle Demokratien. Das Volk hat immer das letzte Wort, ob in Wahlen oder in Abstimmungen. Und wenn das Volk das letzte Wort hat, muss man es eben davon überzeugen, die Entscheidungen zu fällen, die vernünftig sind.
Die EU-Kommission hat als Reaktion auf die stockenden Verhandlungen die Börsenäquivalenz auslaufen lassen. Eine sachfremde Massnahme?
Die EU nutzt ihre Instrumente in einer nicht ganz einfachen Verhandlungssituation, in der auch die Schweiz kein einfacher Verhandlungspartner ist.
Welchen Rat geben Sie der Schweiz für die weiteren Verhandlungen?
Man sollte möglichst schnell in möglichst konstruktiven Gesprächen mit den Verantwortlichen in Brüssel zu gemeinsamen Lösungen kommen. Es hilft gar nichts anderes. Wenn wir – hoffentlich in absehbarer Zeit – beim Thema Brexit zu einer Entscheidung gelangen, wird es auch für die Schweiz einfacher.
Im Dialog mit der EU sind sich die Schweizer manchmal unsicher, mit wem sie es zu tun haben. Gibt es die EU überhaupt?
Die EU ist ein kompliziertes Gebilde. Es gibt die EU, aber wer für die EU welche Aussagen treffen kann, das ist fast noch komplizierter als in der Schweiz.
Vor 20 Jahren haben Sie in Ihrem Buch «Mitten im Leben» auf die Distanz zwischen der Brüsseler Bürokratie und den Bürgern der Union hingewiesen. Sie haben eine öffentliche Debatte über Wesen und Ziel der EU gefordert. Hat es diese Debatte je gegeben?
Es ist noch nicht alles gut, aber es ist vieles besser geworden. Deswegen war auch die Beteiligung bei den letzten Wahlen des Europäischen Parlaments Ende Mai sehr viel grösser als bei früheren Wahlen.
Haben Krisen wie der Brexit oder die Flüchtlingskrise die Wähler mobilisiert?
Krisen sind immer auch Chancen. Die Migrationskrise hat bei allem Streit – und Streit ist notwendig in der Demokratie – auch das Bewusstsein gestärkt, dass wir in Europa gemeinsame Lösungen finden müssen. Und der Brexit hat die anderen Mitgliedsländer nicht entzweit, sondern zusammenwachsen lassen, wie Umfragen zeigen.
Sie haben die europäische Geschichte wesentlich geprägt, ganz besonders als Verantwortlicher für den deutschen Einigungsvertrag. Ist das Projekt der Wiedervereinigung abgeschlossen?
Nein, aber es ist weit vorangekommen. Im November sind es 30 Jahre seit dem Mauerfall, im Oktober jährt sich die Wiedervereinigung zum 29. Mal. Bei den jüngeren Menschen können Sie heute nicht mehr so viele Unterschiede feststellen. Bei Leuten, die so alt sind wie ich, die in so unterschiedlichen Welten wie Ost und West gelebt haben, wirkt es nach. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Das klingt sehr harmonisch.
In Deutschland konnte dank der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der früheren Bundesrepublik wirtschaftlich so viel in die neuen Bundesländer transferiert werden, dass zwar immer noch Unterschiede da sind. Dies sind aber Unterschiede, um welche andere osteuropäische Länder die Ostdeutschen beneiden. Sie selber fühlen sich benachteiligt gegenüber den Westdeutschen. Die anderen osteuropäischen Länder jedoch sagen: Hätten wir doch auch ein Westpolen oder ein Westtschechien. Es kommt immer auf die Perspektive an.
Was bleibt noch zu tun?
Wir müssen jetzt sehr aufpassen, dass wir die grösste Errungenschaft Europas nicht aufs Spiel setzen: die Überwindung der Teilung unseres Kontinents in Ost und West.
Eine andere Gefahr droht aus dem Untergrund. Deutschland ist von der Ermordung Walter Lübckes erschüttert worden. Der mutmassliche Täter ist ein Rechtsextremer. Der SonntagsBlick hat Beziehungen von Schweizer Neonazis zu ihm aufgedeckt. Ein rechtsextremes Netz spannt sich über Europa. Nehmen Politiker, Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste diese Bedrohung genügend ernst?
Vor zehn, 15 Jahren möglicherweise noch nicht. Das haben die Morde des NSU auf schreckliche Art bewiesen. Und zwar deshalb, weil wir uns einfach nicht vorstellen konnten, dass es das gibt. Inzwischen haben wir lernen müssen, dass es davon mehr gibt, als wir für möglich hielten. Das Gute an der Demokratie ist: Fehler machen wir Menschen jede Menge, aber im Gegensatz zu Diktaturen können wir aus Fehlern lernen.
Die rechte Szene nutzt die Möglichkeiten des Internets. Neonazis kommunizieren auf allen Kanälen.
Hetzparolen in den sozialen Netzwerken mehren sich und werden gefördert. Und wir müssen leider sehen, dass sie Hass erzeugen und in reale Gewalttaten umschlagen. Diese Gefahr müssen wir ernst nehmen.
Aber dieser Gefahr kann man nur schwer begegnen. Das Internet ist gross.
Wir sind überall auf der Welt noch daran, die fundamentalen Veränderungen, die die neuen Techniken mit sich bringen, zu begreifen. Ausserdem gehen sie rasend schnell vonstatten. Aber eines scheint mir auf der Grundlage der letzten zweieinhalb Jahrtausende europäischer Geistestradition schon richtig: Die Prinzipien, die wir uns in einer langen, leidvollen Geschichte errungen haben, haben ihren Wert auch in der digitalen Welt. Deswegen ist es unsere Aufgabe, ihnen auch dort Geltung zu verschaffen.
Eine Herausforderung, die es in sich hat.
Es ist jedenfalls falsch, sich gegen wissenschaftlich-technologischen Fortschritt zu wehren. Wir müssen aber schauen, dass Veränderungen in der Kommunikation nicht zulasten der Prinzipien unserer nachhaltigen Freiheitsordnung geschehen.
Sie sind ein brillanter Kommunikator in Wort und Schrift, der seine Fähigkeiten für den demokratischen Rechtsstaat einsetzt. Welche Rolle spielt Sprache in der Politik?
Politiker vertreten die Vielfalt der politischen Meinungen. Dabei sollten wir uns auch unserer Rolle als Vorbilder bewusst sein und diese Verantwortung wahrnehmen. Nicht tolerierbar ist ein Reden, das zu Hass anstachelt.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Man muss offen darüber reden, wie wir mit den wachsenden Bedürfnissen von immer mehr Menschen zur Migration umgehen können, ohne die Stabilität unserer Freiheitsordnung zu belasten. Toleranz ist auch nicht voraussetzungslos. Aber man kann diese Debatten nicht in einer Sprache führen, in der man für alle Probleme dieser Welt die Migranten schuldig macht. Dann schürt man dabei Hass und darf sich nicht wundern, wenn dieser Hass in Gewalt umschlägt.
Muss ein demokratischer Rechtsstaat eine rechtspopulistische Partei wie die AfD aushalten?
Wir sind eine Freiheitsordnung, deshalb kann jeder seine Meinung haben. Die Freiheit endet an den Grenzen, die unsere Verfassung setzt. Ein Stück weit sind alle Politiker populistisch: Sie sind häufig in Versuchung, die Dinge so darzustellen, wie es ihre Wähler möglicherweise gerne hören. Es liegt an den Wählern zu erkennen, ob die Versprechungen überhaupt gehalten werden können. Demagogen versprechen ja Dinge, von denen jeder wissen kann, dass sie sie nicht halten werden. In den Grenzen unserer Verfassung aber gilt die Meinungsfreiheit.
Bewegt sich die AfD innerhalb der Grenzen der Verfassung?
Die AfD muss sich jetzt schon die Frage gefallen lassen, ob sie hinreichend klare Grenzen zieht – oder ob sie auch Leute in ihren Reihen duldet oder mit Leuten zusammenarbeitet, deren Verbindungen über Stufen bis zu mörderischen Extremisten gehen. Wer da keine klaren Grenzen hat, muss ertragen, dass ihm das von den politischen Gegnern vorgehalten wird.
Welche Prognose geben Sie Freiheit und Demokratie im 21. Jahrhundert?
Manche sagen, Freiheit und Demokratie seien in der Krise. Aber schauen Sie, wie nervös die Diktatoren überall auf der Welt auf demokratische Bewegungen reagieren – im arabischen Raum, in der Türkei, in China. Schauen Sie, was jetzt gerade in Hongkong passiert. Oder wie in China die 30 Jahre alten Ereignisse auf dem Tjananmen-Platz in Peking aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden. Offensichtlich fürchten die Diktatoren sehr, dass die Ideen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hohe Attraktivität haben. Daraus sollten wir auch ein Stück weit Selbstvertrauen schöpfen.
Hoffnung für die Zukunft machen auch die vielen Jugendlichen, die sich für politische Anliegen engagieren ...
Fridays for Future!
Die Reaktionen auf ihr Engagement sind allerdings geteilt. Sind die Jugendlichen von ernsten Sorgen getrieben oder suchen sie vor allem Event-basierte Action?
Dieses Engagement ist zu begrüssen. Dass man sich um die natürlichen Lebensgrundlagen Sorgen machen muss, ist ja nun wirklich wahr. Das gilt für den Klimawandel, die Reduzierung der Artenvielfalt und die dramatische Entwicklung auf den Weltmeeren. Deswegen verstehe ich die jungen Menschen, wenn sie sagen: Redet nicht nur, sondern handelt.
Die Appelle der Jugendlichen sind bisweilen diffus.
Man darf nicht erwarten, dass die Jugendlichen die Lösungen haben. Dafür haben wir die Fachleute: Wissenschaftler, Techniker, Politiker. Aber dass die Jungen von uns Antworten, Handlungen und Entscheidungen fordern, ist richtig.
Werden die Klimaproteste Wirkung zeitigen?
Auch in der Schweiz weiss man: Für Veränderungen Mehrheiten zu gewinnen, ist schwierig. Wer einigermassen zufrieden ist, will nicht beunruhigt oder belästigt werden. Wenn aber der Druck gross genug ist, dann kommt man auch zu Veränderungen. Das tun die jungen Leute: Sie verstärken den Druck. Damit werden sie Erfolg haben.