Klimaseniorinnen gewinnen vor Europäischem Gerichtshof in Strassburg
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Das freut auch Greta Thunberg:Klimaseniorinnen gewinnen vor Europäischem Gerichtshof

«Wir werden keine Ruhe geben»
Schweizer Klimaseniorinnen kommen ins Kino

Unzureichender Klimaschutz verletzt Menschenrechte: Dieses vor einem Jahr gefällte Urteil wird mit «Trop chaud» zum Filmstoff. Was hat der Entscheid seither bewirkt?
Publiziert: 12.04.2025 um 19:13 Uhr
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Aktualisiert: 14.04.2025 um 08:11 Uhr
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Kalte Kulisse im Film «Trop chaud»: Klimaseniorinnen an der Zunge des Morteratschgletschers
Foto: MattoGrosso Films, Zürich

Darum gehts

  • Klimaseniorinnen gewinnen Gerichtsfall gegen Schweiz für besseren Klimaschutz
  • Film «Trop chaud» dokumentiert den Kampf der Klimaseniorinnen
  • Rosmarie Wydler-Wälti von BBC zu den 100 einflussreichsten Frauen 2024 gezählt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Daniel Benz
Beobachter

Eine besonders eindrückliche Szene des Films «Trop chaud» («Zu heiss») spielt vor eiskalter Kulisse: Eine Gruppe Frauen, dick eingehüllt, steht im Geröll vor dem Morteratschgletscher im Engadin. Es sind Mitglieder des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz, die symbolisch die einst mächtige Eismasse beerdigen, die sich in letzter Zeit stark zurückgezogen hat. Die Gletscherschmelze ist hierzulande das wohl deutlichste Anzeichen des Klimawandels.

Premiere zum Jubiläum

Mit der Sequenz im Val Morteratsch sind Thema und Hauptdarstellerinnen des Dokumentarfilms gesetzt. «Trop chaud» schildert die Geschichte der Klimaseniorinnen, die nach einem jahrelangen, zu Beginn aussichtslos erscheinenden Kampf einen Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verbuchten: Das Gericht verurteilte die Schweiz dafür, die Menschenrechte älterer Frauen zu verletzen, weil sie diese unzureichend vor den Folgen des Klimawandels schützt. Das Urteil war weltweit das erste seiner Art und erregte grosses Aufsehen.

Artikel aus dem «Beobachter»

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Bei der Premiere von «Trop chaud» am 9. April ist eine Abordnung der Klimaseniorinnen natürlich an vorderster Front mit dabei. Das Datum ist kein Zufall: Exakt vor einem Jahr, am 9. April 2024, wurde das Klimaurteil in Strassburg (F) gefällt. In die Kinos kommt der Film, nach Einschätzung seiner Macher «ein packender Gerichtskrimi», am 15. Mai.

Das Urteil zeigt im Hintergrund Wirkung

Rosmarie Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin und so etwas wie das Gesicht der Klimaseniorinnen. Fragt man sie am Tag der «Trop chaud»-Erstaufführung nach einem Adjektiv, das ihre Gefühlslage beschreibt, wenn sie ein Jahr danach auf das Urteil zurückblickt, dann sagt sie: «Hoffnungsvoll.»

Es sei im Hintergrund einiges gelaufen, erzählt Wydler-Wälti. «Das Interesse an unserer Gruppe und daran, was wir erreicht haben, ist im In- und Ausland stark spürbar.» So kam die 75-jährige Baslerin – die 2023 für den Prix Courage des Beobachters nominiert war – in den letzten Monaten viel herum und hielt Vorträge. Vor allem bei Organisationen, die sich die furchtlosen Frauen aus der Schweiz zum Vorbild nehmen; zuletzt bei den Omas for Future aus Deutschland. Auf dieser Ebene zeigt der EGMR-Entscheid bereits Wirkung.

«Entsetzt» über die Reaktion der Politik

Auf der politischen Ebene ist das noch nicht der Fall. Hier stellt sich die Schweiz auf den Standpunkt, es werde schon genug getan für den Klimaschutz. Das entlockt Rosmarie Wydler-Wälti in ihrer Einschätzung zum Jahrestag einen deutlich schärferen Kommentar: «Entsetzt» sei sie darüber, wie die hiesige Politik auf das Klimaurteil reagiert habe, es verwedle und faktisch ignoriere.

Das Gesicht der Klimaseniorinnen: Rosmarie Wydler-Wälti im Film «Trop chaud»
Foto: MattoGrosso Films, Zürich

Doch so billig, wie die Schweiz hofft, kann sie sich nicht aus der Affäre ziehen. Anfang März wies das Ministerkomitee des Europarats die Stellungnahme des Bundesrats zum Urteil vom 9. April 2024 zurück und verlangte bis zum kommenden September eine Nachbesserung. Das habe den Klimaseniorinnen neuen Rückenwind gegeben, sagt Wydler-Wälti. Die Kampfbereitschaft ist jedenfalls intakt: «Wir bleiben so lange, bis wir sehen, dass das Urteil in der Schweiz implementiert ist. Mit uns ist weiter zu rechnen, wir werden keine Ruhe geben.»

Daran zweifelt niemand, der je mit den älteren Frauen aus allen Landesteilen zu tun hatte. Anerkennung finden sie unterdessen auch auf internationaler Ebene: Rosmarie Wydler-Wälti wurde kürzlich von der BBC zu den hundert einflussreichsten Frauen der Welt des Jahres 2024 gezählt.

Modell für künftige Klimaverfahren

«Dieses Urteil kann man nicht ignorieren, es ist kein Dokument für die Schublade.» Diese Einschätzung gab die Zürcher Rechtswissenschaftlerin Corina Heri vor Jahresfrist, in der Euphorie unmittelbar nach dem EGMR-Entscheid, dem Beobachter zu Protokoll. Wie würde sie es heute formulieren? «Genau gleich!»

Zwar ist auch Heri enttäuscht über die Reaktion der offiziellen Politik im Inland: «Schade, da war die Schweiz kein Vorbild.» Doch insgesamt fällt die Einjahresbilanz der Expertin für weltweite Klimarechtsprechung «ermutigend» aus. Heri betont die internationale Dimension: «Das Urteil, das die Klimaseniorinnen in Strassburg erwirkt haben, wird von zahlreichen Organisationen sehr genau unter die Lupe genommen.» Denn es biete Anknüpfungspunkte für weitere Klimaverfahren, die in Vorbereitung seien. Auch hätten nationale Gerichte, etwa in Grossbritannien und Schweden, bereits begonnen, sich auf das EGMR-Urteil zu stützen.

Treiber einer jungen juristischen Disziplin

Nicht vergessen dürfe man, dass die Klärung menschenrechtlicher Klimafragen eine junge Disziplin sei, erklärt Corina Heri, die mittlerweile an der Universität von Tilburg in den Niederlanden tätig ist. Noch vor zehn Jahren sei das kein Thema gewesen. «Da ist in kurzer Zeit viel in Bewegung gekommen, und das Schweizer Urteil ist dabei ein wesentlicher Treiber.»

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