Erstmals regiert eine Kanzlerin Österreich: Die Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein (69) steht bis zu den Neuwahlen im September einer Übergangsregierung vor. SonntagsBlick sprach mit dem renommierten Wiener Historiker Oliver Rathkolb (63) über das Ende der Regierung von Sebastian Kurz, den Rückhalt der FPÖ in der Bevölkerung und den beginnenden Wahlkampf.
Herr Professor Rathkolb, die Regierung in Österreich ist aufgelöst, im Herbst folgen Neuwahlen. Beruhigt sich die Lage im Land nun ein wenig?
Oliver Rathkolb: Nein. Der Wahlkampf wird bald anlaufen. Möglich, dass noch weitere
Stellen des Ibiza-Videos auftauchen. Es dürfte heftig werden.
Mit Brigitte Bierlein steht erstmals eine Frau an der Spitze der Regierung. Was kommt in den nächsten
Monaten auf die Kanzlerin zu?
Ich bin sicher, dass sie und
ihr Team vor der Bildung einer neuen Bundesregierung für
einen gesetzeskonformen und auch moralisch korrekten
Ablauf der Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte sorgen werden. Gleichzeitig hoffe ich sehr, dass es ihnen gelingt,
wie derzeit dem Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, mehr Contenance in
die teilweise völlig eskalierende emotionale Debatte zu bringen.
Ist die FPÖ in diesem Zustand bereit, einen Wahlkampf zu führen?
Sie hat sich aufgestellt. Ex-Verkehrsminister Norbert Hofer ist der Mann für eine mögliche Regierungskoalition und der ehemalige Innenminister Herbert Kickl tut das, was er am besten kann: einen aggressiven Wahlkampf betreiben. Es ist mit harten, vielleicht sogar exzessiven Bandagen zu rechnen.
Die ÖVP von Ex-Kanzler Sebastian Kurz hat die Europawahl in Österreich klar gewonnen. War es demnach richtig, die FPÖ aus der Regierung auszuschliessen?
Ja, aber die FPÖ war schon vorher politisch auffällig. Das hat Sebastian Kurz selbst gerade zugegeben. Es gab laufend höchst dubiose Vorgänge, gerade Kickl war schon immer mit demokratiepolitisch grenzwertigen Aktionen aufgefallen und aggressiv unterwegs. Kurz hat gewusst, wen er da in die Regierung aufnahm.
Kurz gelang es, den Patt von Sozialdemokraten und Konservativen aufzubrechen. Rechnen Sie nach dem Ende seiner Regierung mit einer Rückkehr zum Tandem aus SPÖ und ÖVP?
Nein. Kurz erweist sich als sehr flexibel. Aber er hat eine klare Linie: Er will die SPÖ aus der Regierung fernhalten. Seine Strategie wird es wohl sein,
bei den Neuwahlen auf über
40 Prozent zu kommen, um dann mit der liberalen Neos-Partei oder, wenn es nicht
anders geht, mit den wiedererstarkten Grünen eine Koalition einzugehen.
Nach dem Skandal um das Ibiza-Video schien das Urteil klar: Diese FPÖ ist nicht regierungsfähig. Dennoch geniesst die Partei immer noch grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Warum?
Das überrascht mich überhaupt nicht. Jörg Haider, der grosse Held der Partei, hat das Bundesland Kärnten bereits in den Konkurs getrieben. Man weiss, wie führende Funktionäre der FPÖ agieren. Doch hat sich hinter der Partei ein Stammwählerpotenzial angesammelt. Diese Leute wählen die FPÖ, egal, was passiert. Das hängt nicht zuletzt mit dem hohen autoritären Potenzial in Österreich zusammen. Umfragen zeigen: 15 bis 20 Prozent der Wähler sind bereit, einen Politiker zu wählen, der weder auf Wahlen noch auf das Parlament Rücksicht nimmt.
Einen «starken Mann».
Richtig. Genau diesen Macho-Zug konnte man bei Heinz-Christian Strache im besagten Video sehr deutlich erkennen. Das kommt gerade bei vielen männlichen Wählern sehr gut an.
Ist das ein allein österreichisches Phänomen?
Nein, wir finden das auch in
Autoritarismus-Umfragen in Deutschland. Aber wir haben ein Problem mit unserer Vergangenheit. Die FPÖ erstarkte erst ab 1986. Davor hatte sie
einen liberaleren Kurs eingeschlagen. Doch Haider nutzte die Debatte über die Kriegsvergangenheit, um die Partei wieder nach rechts zu rücken. Er stellte sich vor die Kriegsgeneration, selbst vor ehemalige Angehörige der SS. Was allerdings Sprache und Auftritt angeht, hat Haider inzwischen in vielen Ländern Nachahmer gefunden.
Also hat die Aufarbeitung
der Geschichte den Rechtspopulismus in Österreich gestärkt?
Haider nutzte die Stimmung in einem grossen Teil der Bevölkerung geschickt. Und weil sich die FPÖ-Funktionärsbasis nicht von dieser Vergangenheit verabschieden will, kommt es zu diesen antisemitischen und rassistischen Vorfällen in der Partei.
Also eben doch das alte Klischee: Die Rechten wurden stark, weil die eigene Geschichte nicht aufgearbeitet wurde?
Nein, es ist eben genau umgekehrt. Der braune Sud kam wieder hoch, weil die Österreicher anfingen, sich mit ihrer Geschichte selbstkritisch zu beschäftigen. Das war die Gegenreaktion auf den Prozess, in welchem die Deutschen anfingen, sich als Mittäter im Dritten Reich zu sehen. Diese Stimmung wurde von Haider sehr geschickt mobilisiert. Strache führte dies fort, aber nunmehr mit einer aggressiven Anti-Migrations-Kampagne.
Ganz naiv gefragt: Muss man sich um Österreich Sorgen machen?
Spannende Frage. Aber die Medien sind hochalarmiert. Sogar der ORF ist aus seinem Winterschlaf erwacht. Die Politik steht unter scharfer Beobachtung. Das ist bei allen Parteien angekommen. Insofern war die Ibiza-Affäre vielleicht ganz heilsam.
Wobei Strache bereits angekündigt hat, seine Unschuld beweisen zu wollen. Ist seine Karriere vielleicht noch gar nicht zu Ende?
Ich schliesse Straches Rückkehr nicht aus. Er inszeniert sich als Opfer, und darum wurde er auch ins Europaparlament gewählt. Die FPÖ-Spitze will das zwar nicht, muss sich aber noch klar werden, wie sie mit ihm umgehen will. Er ist faktisch ohne Mandat und ohne berufliche Existenz.