BLICK: Ein Drittel aller Rentner in der Schweiz beziehen Ergänzungsleistungen (EL) und müssen im Monat mit 1560 Franken auskommen. Wie viele Tage würden Sie – Miete abgezogen – damit überleben?
Eveline Widmer-Schlumpf: Ich würde nicht verhungern, nicht erfrieren, könnte existieren. Aber ich würde mich sozial zurückziehen. Könnte meinen sechs Enkeln kaum mehr spontan ein Geschenk machen und verschiedene Beziehungen nicht mehr so intensiv pflegen, wie ich das heute tue. Soziale Kontakte waren und sind in meinem Leben stets zentral. Wie bei allen Menschen. Viele alte Menschen, die in einer solchen Situation stecken, haben ein Leben lang für sich und andere gesorgt. Dann zu merken, dass es im Alter nicht mehr ohne Unterstützung geht, ist wirklich schlimm für sie.
Ergänzungsleistungen waren bei der Einführung 1966 als Übergangslösung bis zur Erreichung existenzsichernder Renten gedacht. Heute sind die Hälfte aller
Heimbewohner von Ergänzungsleistungen abhängig.
Das ist so. Zudem hängt die EL-Regelung der Zeit hinterher. Die Mietzinsmaxima wurden seit 15 Jahren nicht mehr angepasst, das müsste dringend gemacht werden – mindestens so, wie es der Ständerat aktuell vorschlägt.
Die Juristin gehörte während ihrer Zeit in der Landesregierung (2008–2015) zu den beliebtesten Bundesrats-Mitgliedern. Und war gleichzeitig ein rotes Tuch für die SVP. Durch ihre Wahl nach Bern hatte Eveline-Widmer Schlumpf (62) die Abwahl von Noch-Parteikollege Christoph Blocher (77) ermöglicht. Die SVP schloss daraufhin die Bündner SVP aus der Partei aus, worauf sich einige Berner und Glarner ebenfalls abspalteten: Die BDP war geboren. Widmer-Schlumpf war aber auch zuvor Tabubrecherin: 1998 wurde die Tochter von alt Bundesrat Leon Schlumpf (†87) als erste Frau in den Regierungsrat des Kantons Graubünden gewählt, bis Ende 2007 war sie Finanzdirektorin. Seit 2017 ist die dreifache Mutter und sechsfache Grossmutter Präsidentin der Stiftung Pro Senectute.
Die Juristin gehörte während ihrer Zeit in der Landesregierung (2008–2015) zu den beliebtesten Bundesrats-Mitgliedern. Und war gleichzeitig ein rotes Tuch für die SVP. Durch ihre Wahl nach Bern hatte Eveline-Widmer Schlumpf (62) die Abwahl von Noch-Parteikollege Christoph Blocher (77) ermöglicht. Die SVP schloss daraufhin die Bündner SVP aus der Partei aus, worauf sich einige Berner und Glarner ebenfalls abspalteten: Die BDP war geboren. Widmer-Schlumpf war aber auch zuvor Tabubrecherin: 1998 wurde die Tochter von alt Bundesrat Leon Schlumpf (†87) als erste Frau in den Regierungsrat des Kantons Graubünden gewählt, bis Ende 2007 war sie Finanzdirektorin. Seit 2017 ist die dreifache Mutter und sechsfache Grossmutter Präsidentin der Stiftung Pro Senectute.
Macht es Sie eigentlich wütend, wenn man sagt, dass die Alten die Gemeinschaft nur kostet?
Nein, weil dem nicht so ist. Im Kanton Graubünden beispielsweise bezahlen steuerpflichtige Rentner 26 Prozent der Einkommenssteuer. Bei der Vermögenssteuer sind es gar 57 Prozent. Ein Teil der Rentnerinnen und Rentner ist durchaus wohlhabend. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch zahlreiche gibt, die ausser der AHV nichts haben. Jede achte Person im Rentenalter ist von Armut betroffen!
30 Prozent davon sind Frauen.
Genau. Und 17 Prozent Männer. Das ist keine Wertung, einfach Tatsache. Dieser müssen
wir als Gesellschaft Rechnung tragen.
Was raten Sie einer jungen Mutter, die beschliesst, die nächsten 15 Jahre Hausfrau und Mutter zu sein?
Manche Frauen überlegen sich nicht, wie schnell die Zeit vorüber ist, in der die Kinder einen voll brauchen. Wenn man dann lange Zeit nicht berufstätig war, wird es schwer, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Darum würde ich die junge Mutter ermuntern, mindestens Teilzeit im Beruf zu bleiben. Aber ich erwarte auch von den jungen Männern, dass sie sich über die Altersvorsorge ihrer Frauen Gedanken machen.
Altersarmut ist weiblich, weil Frauen eben in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig waren. Rächt sich jetzt das traditionelle Schweizer Familien-Modell?
Heute kann man das nicht mehr generell so sagen. Man vergisst oft: Bis ins Jahr 2000 stand eine Frau, die alles zu Hause erledigte, die sozialen Kontakte pflegte und das Rückgrat der Familie war, bei einer Scheidung ohne Pensionskasse da. Heute hat sie Anspruch auf die Hälfte der Pensionskasse des Mannes. Jetzt müssen Paare überlegen, ob die Leistungen aus der beruflichen Vorsorge im Alter für zwei Personen reichen.
Sind Sie als Präsidentin von Pro Senectute eigentlich je einem Schicksal begegnet, von dem Sie dachten, dass es in der Schweiz niemals möglich wäre?
Seit Jahren treffe ich immer wieder Menschen, bei denen ich mich frage, wie sie finanziell durchkommen. Und ich merke, dass es nur geht, weil sie auf ganz vieles im Alltag verzichten. Ich versuche ihnen dann zu erklären, dass sie Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben und dass man sich deswegen nicht zu schämen braucht. Trotzdem ist es für manche ein schwieriger Schritt, zur Gemeinde zu gehen und Hilfe zu beantragen.
Werden Rentner, die Ergänzungsleistungen beziehen, derart stigmatisiert?
Nein. Aber wir wissen aus Erfahrung, dass Seniorinnen und Senioren oft grosse Hemmungen haben. Schliesslich haben die meisten ihr Leben lang hart gearbeitet, immer Steuern und alle Rechnungen bezahlt – und plötzlich können sie dies nicht mehr. 40 Prozent der Leute, die wir beraten, suchen bei uns Rat, weil sie finanziell nicht mehr ein und aus wissen.
Ist Altersarmut nicht auch selbstverschuldet? Jeder ist auch selbst verantwortlich, fürs Alter zu sparen.
Eine Mittelstandsfamilie ist heute kaum in der Lage, eine dritte Säule aufzubauen. Ich bin auch für Eigenverantwortung, aber es gibt auch hier Grenzen. Wie wollen sie, wenn sie Kinder haben, von einem kleinen Verdienst noch privat fürs Alter sparen? Da müssen Sie schon froh sein, die AHV-Beiträge, Pensionskasse und Krankenkassen-Prämien berappen zu können. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir sind als Gesellschaft aufgerufen, dafür zu sorgen, dass alle auch im Alter in Würde leben können. Das können wir in der Schweiz auch schaffen.
Wir sprechen über arme Alte. Aber ist es für eine alleinerziehende Mutter nicht
schlimmer, arm zu sein als für einen Rentner?
Solche Vergleiche finde ich ganz schwierig. Jeden Tag nicht wissen, wie man was bezahlen soll, kann man in keinem Alter einfach so wegstecken.
Unser Vorsorge-System ist überaltert. Das Volk hat die AHV-Reform von Bundesrat Berset letzten Herbst an der Urne bachab geschickt. Dasselbe ist mit der Unternehmenssteuerreform 3 (USR3) passiert. Nun sollen diese zwei Dossiers verknüpfen werden. Eine kluge Idee?
Für den AHV-Teil des Pakets ist zu sagen, dass es nur ein Teilschritt sein kann. Man kann für die AHV schon immer wieder eine Lösung bringen, die einem drei, vier Jahre Zeit verschafft. Aber das ist keine auf Dauer ausgerichtete Politik. Mit dieser Lösung wäre die AHV bis 2024 gesichert. Man schaut also bloss noch, dass man kurzfristig über die Runden kommt. Gerade im Sozialversicherungsbereich muss eine Politik auf mindestens zehn Jahre, wenn nicht mehr, ausgerichtet sein. Jetzt überlastet man die Jüngeren, weil man nicht in der Lage ist, eine längerfristige Lösung zu finden.
Sie kämpften für die AHV-Reform. Sagten, dass bei einem Nein eine Zusatzsteuer für die AHV oder Rentenkürzungen unumgänglich wären.
Ob wir es über Lohnprozente finanzieren oder über die Mehrwertsteuer: Es braucht mehr Geld für die AHV. Ich sehe ein grosses Problem aber auch in der zweiten Säule.
Inwiefern?
Die Altersvorsorge-Revision, die jetzt in der Vernehmlassung ist, beschränkt sich auf die AHV. Die Lösung des grossen Problems in der zweiten Säule, die Umverteilung von mindestens sechs Milliarden Franken zugunsten der Rentnerinnen und Rentner und zulasten der Jüngeren, wird auf die lange Bank geschoben. Gerade auch hier aber sind Korrekturen notwendig. Dies ist auch ein Gebot der Fairness gegenüber den Jüngeren.
Finanzminister Ueli Maurer, Ihr Nachfolger, nannte den AHV-Steuerdeal «ein
Kunstwerk des politischen Kompromisses». Er kostet zwar 200 Millionen mehr als die Bundesrats-Variante. Aber für jeden Franken Steuerausfall soll ein Franken in die AHV fliessen. Das müssten Sie doch begrüssen ...
In der Politik werden immer wieder Vorlagen als «Kunstwerk» bezeichnet.
Sie möchten sich dazu nicht detailliert äussern. Weil Sie die Vorgängervorlage USR3 im BLICK scharf kritisiert und damit vielleicht die Abstimmung entschieden haben? Bereuen Sie die Aussage von damals?
Es wurde bereits viel dazu geschrieben und gesagt. Diese Geschichte ist für mich
abgeschlossen.
Sie sollte ein grosser Wurf werden – die Rentenreform, mit der Sozialminister Alain Berset die erste und zweite Säule miteinander sanieren wollte. Doch das Volk spielte nicht mit und verwarf die Vorlage letzten Herbst.
AHV und Pensionskassen geht es aber nicht besser. Weil der Druck gross ist, hat Berset schon die Nachfolge-Reform aufgegleist. Allerdings will er in einem ersten Schritt nur die grössten Löcher in der AHV stopfen. Vor allem mit der Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre und einem Zustupf von 1,5 Mehrwertsteuerprozenten. Der Vorschlag ist derzeit in der Vernehmlassung.
Die AHV-Sanierung will auch der Ständerat angehen – aber auf andere Art: Die ebenfalls schon einmal vom Volk verworfene Reform der Unternehmenssteuern soll mehrheitsfähig gemacht werden, indem jährlich zwei Milliarden Franken zusätzlich in die AHV gepumpt werden. Finanziert über Lohnbeiträge. Damit müsste Berset die Mehrwertsteuer nur um 0,7 Prozent erhöhen. Der AHV-Steuerdeal kommt in der Herbstsession in den Nationalrat.
Sie sollte ein grosser Wurf werden – die Rentenreform, mit der Sozialminister Alain Berset die erste und zweite Säule miteinander sanieren wollte. Doch das Volk spielte nicht mit und verwarf die Vorlage letzten Herbst.
AHV und Pensionskassen geht es aber nicht besser. Weil der Druck gross ist, hat Berset schon die Nachfolge-Reform aufgegleist. Allerdings will er in einem ersten Schritt nur die grössten Löcher in der AHV stopfen. Vor allem mit der Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre und einem Zustupf von 1,5 Mehrwertsteuerprozenten. Der Vorschlag ist derzeit in der Vernehmlassung.
Die AHV-Sanierung will auch der Ständerat angehen – aber auf andere Art: Die ebenfalls schon einmal vom Volk verworfene Reform der Unternehmenssteuern soll mehrheitsfähig gemacht werden, indem jährlich zwei Milliarden Franken zusätzlich in die AHV gepumpt werden. Finanziert über Lohnbeiträge. Damit müsste Berset die Mehrwertsteuer nur um 0,7 Prozent erhöhen. Der AHV-Steuerdeal kommt in der Herbstsession in den Nationalrat.