Kein Dossier elektrisiert die politische Schweiz mehr als das Verhältnis zur Europäischen Union. Wenige Worte über dieses Thema genügen, um den Berner Betrieb in Wallung zu versetzen.
Dies musste jüngst auch Aussenminister Ignazio Cassis (57) erfahren. Vor zehn Tagen von Radio SRF auf die Flankierenden Massnahmen angesprochen, meinte er: «Das ist eine fast religiöse Frage für beide Seiten.» Und: «Sowohl die EU wie die Schweiz müssen bereit sein, über den eigenen Schatten zu springen und kreative Wege zu finden.»
Die Reaktion der Gewerkschaften folgte prompt: Cassis stelle die Flankierenden Massnahmen zur Disposition – jenes Konstrukt, das es der Linken vor 16 Jahren überhaupt erst möglich gemacht hatte, die EU-Personenfreizügigkeit zu unterstützen. Er könne die Linke nicht einfach vor den Kopf stossen, sagt ein FDP-Parlamentarier. Und er schwäche damit die Verhandlungsposition der Schweiz.
Was Cassis da so vorsichtig formuliert hatte, nahm nur vorweg, was schon nächste Woche die Landesregierung beschäftigen könnte: Insider gehen davon aus, dass der Bundesrat kommenden Mittwoch, spätestens aber eine Woche darauf eine Aussprache über die Verhandlungen mit Brüssel führt. Dann wird Cassis seine Kollegen über die Ergebnisse der Gespräche des Spitzendiplomaten Roberto Balzaretti (53) informieren. Damit bleibt die Europapolitik, die grösste politische Baustelle des Landes, Thema Nummer eins im Bundeshaus.
Cassis' Sensibilität zum Thema Lohnschutz ist in Frage gestellt
Apropos Baustelle: Auch ganz privat muss sich Cassis über die Funktion der Flankierenden Massnahmen Gedanken machen. Mitte März 2018 wurde die italienische Firma Carmec gebüsst, die im Haus des Aussenministers in Montagnola TI tätig war: Die dort eingesetzten Arbeitnehmer seien nicht korrekt entlöhnt worden.
Eine Bagatelle. Eigentlich. Aber was sagt das Verhalten des Bauherrn Ignazio Cassis darüber aus, mit welcher Sensibilität er die zukünftige Gestaltung der Flankierenden Massnahmen angeht?
Der Spatenstich zur persönlichen Baustelle des Aussenministers erfolgte Anfang September 2017. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Bundesratswahl gerade ihre heisse Phase: Die freisinnigen Kandidaten Isabelle Moret (47, VD), Pierre Maudet (40, GE) und Ignazio Cassis hatten den Sommer damit zugebracht, sich für die Nachfolge Didier Burkhalters in Position zu bringen. Der Tessiner galt als Favorit – und machte am Ende souverän das Rennen. In den Tagen der Entscheidung lässt Cassis sein Haus umbauen. An der Renovation sind mehrere Firmen aus der Region Lugano beteiligt.
Monteure arbeiteten nicht gesetzeskonform
«Herr Cassis hatte das Architekturbüro Boila & Volger beauftragt, mit lokalen Unternehmen zusammenzuarbeiten», sagt der Informationschef des Aussendepartements, Jean-Marc Crevoisier. «Für spezielle Arbeiten zur Installation eines Autolifts konnte jedoch keine Tessiner Firma gefunden werden. Deshalb wurde die Firma Carmec kontaktiert.» Crevoisier betont: Cassis habe von seinem Architekten eine Bestätigung eingefordert, dass alles rechtlich korrekt abläuft. SonntagsBlick aber weiss: Rechnungen von Carmec waren direkt an Cassis adressiert und wurden von ihm bezahlt.
Dann, am 6. September 2017, geraten zwei Monteure der Firma auf dem Weg nach Montagnola in eine Grenzkontrolle. Carmec wird aufgefordert, Belege über Zeiterfassung, Lohn, Unterkunft und Verpflegung einzureichen.
Am 16. November teilt die Paritätische Berufskommission mit, dass gegen Carmec ein Verfahren wegen Verletzung des Entsendegesetzes sowie des Gesamtarbeitsvertrages der Branche der Elektro- und Telekommunikations-Installateure eröffnet werde. Laut Auskunft von Carmec beanstandeten die Kontrolleure, die Verpflegung sei nicht bezahlt worden.
Im Dezember entscheidet die Kammer, keine Strafe zu verhängen. Der Gesetzesverstoss sei zu geringfügig. Ein Entscheid, den das Tessiner Arbeitsinspektorat am 15. März umstösst: Carmec muss eine Geldstrafe von 115 Franken zahlen, Gebühren kommen hinzu. Alles in allem werden 490 Franken fällig. Der Entscheid liegt SonntagsBlick vor.
Damit ist es amtlich: Ausgerechnet bei jenem Bundesrat, auf dessen Schreibtisch das heikle Dossier liegt und der aus Sicht der Gewerkschaften die Flankierenden Massnahmen zur Disposition stellt, ereignet sich ein Verstoss gegen die Lohnschutzmassnahmen.
Cassis hat von nichts gewusst
Davon habe Cassis bislang aber keine Kenntnis gehabt, sagte sein Sprecher letzte Woche. Wenn die Firma Unregelmässigkeiten begangen habe, so Crevoisier, solle sie auch gebüsst werden. «Bundesrat Cassis ist wie die übrigen Mitglieder des Bundesrates überzeugt, dass der Schutz des Arbeitsmarkts durch die Flankierenden Massnahmen essenziell ist.» Als Tessiner sei dem Aussenminister diese Realität bewusst. Eine solche «rote Linie» könne nur geändert werden, wenn der Bundesrat dies beschliesse und dabei vom Parlament und den Kantonen unterstützt werde.
SonntagsBlick sprach gestern Samstag in Airolo TI mit Cassis über den Vorgang. Wenn die vom Architekten beauftragte Firma einen Fehler gemacht habe, «ist es normal, dass sie gebüsst wurde», sagte er. Cassis weiss sich mit der politischen Konkurrenz einig. «Wichtig ist, und das zeigt dieser Fall, dass weiterhin Lohnkontrollen durchgeführt und Firmen sanktioniert werden können», sagt SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (57, BL). «Darum geht es bei der Diskussion um die Flankierenden Massnahmen. Schön, dass dies im Tessin offenbar funktioniert!»