BLICK: Frau alt Bundesrätin, machten Sie selbst als Aussenministerin gute Erfahrungen mit der Türkei, oder gab es Probleme?
Micheline Calmy-Rey: Ich machte sehr gute Erfahrungen. Die Schweiz war zu meiner Amtszeit Mediatorin zwischen Armenien und der Türkei. Drei Jahre lang habe ich dazu auch eng mit dem damaligen Aussenminister zusammengearbeitet. Zu dieser Zeit gab es keine Probleme, es wurde konstruktiv gearbeitet. Schwierig war die Situation nach dem Ja zur Minarettverbots-Initiative im Jahr 2009. Aber die türkische Regierung hat mir die Möglichkeit gegeben, das Resultat in den türkischen Medien zu erklären. Das war hilfreich. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen waren gut und sind es immer noch.
Der Bundesrat sieht die Sicherheit als gewährleistet an und will den Auftritt von Mevlüt Cavusoglu nicht verbieten. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?
Erstens: Der türkische Aussenminister darf reisen, wohin er will. Er braucht kein Visum, um in die Schweiz zu kommen. Das kann ihm niemand verbieten. Zweitens: Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein sehr hohes Gut, das es zu respektieren gilt. Drittens: Es gibt keine Schweizer Verordnung mehr, die solche Auftritte verbietet. Der einzige Grund, einen solchen Anlass zu untersagen, wäre ungenügende Sicherheit. Ich gehe aber davon aus, dass der Bundesrat die Bedingung gestellt hat, dass es ein Privattreffen ist und kein öffentlicher Anlass. Die Schweizer Regierung dürfte wohl auch verlangt haben, dass sie die Gästeliste der möglichen Veranstaltung erhält.
SP-Präsident Christian Levrat sieht den Frieden unter Türken in der Schweiz in Gefahr.
Das ist tatsächlich ein Problem. Es existiert aber ohnehin bereits. Die Asylgesuche von türkischen Diplomaten beweisen das. Es darf nicht sein, dass Leute, die in der Schweiz leben, sich von einem ausländischen Staat bedroht fühlen. Die Schweiz sollte sich darum kümmern.
Warum sind gute Beziehungen zur Türkei für die Schweiz so wichtig?
Für die Schweiz sind gute Beziehungen mit allen Ländern wichtig. Doch die Türkei ist nur ein paar Flugstunden entfernt, und es leben viele Türken in der Schweiz. Wir haben also menschliche und politische Beziehungen. Die Mediation mit Armenien hat uns nähergebracht. Schliesslich sind auch die wirtschaftlichen Beziehungen wichtig, das fängt auch mit der Diplomatie an.
Was halten Sie von der Verfassungsreform, für die Erdogan und seine Mitstreiter werben?
Die Türkei erlebt eine autoritäre Wende. Das macht Angst. Aber gerade deshalb sollten Staaten wie die Schweiz die Meinungsfreiheit sehr hoch gewichten. Wenn wir begännen, Auftritte zu verhindern, wären wir kein gutes Vorbild. Wir würden in die gleiche Richtung gehen wie Erdogan selbst. Ich hoffe, dass der Bundesrat die Sicherheitsrisiken gut abgewogen hat, dass es ein Privattreffen bleibt und dass keine Gewalttätigkeiten stattfinden.