Noch in den 1960er-Jahren galt Atomenergie als energiepolitische Heilsbringerin. In der Schweiz forderten selbst Umweltschutzorganisationen den Bau von Atomkraftwerken. Dann kam Kaiseraugst.
Am Dienstag nach Ostern 1975 besetzten Aktivisten eine Baustelle in Kaiseraugst AG. Hier, unweit der Stadt Basel, wollte das Elektrizitätsunternehmen Motor-Columbus ein AKW bauen.
Türme des Anstosses
Die Besetzer störten sich nicht etwa am Risiko, das mit der Atomkraft einherging. Nein – der Protest hatte seine Wurzeln an zwei 115 Meter hohen Türmen, die den Reaktor kühlen sollten – und die liebliche Rhein-Landschaft verschandeln würden.
Das trieb breite Kreise auf die Baustelle – nicht nur Linke, sondern auch bürgerliche Politiker und gar die Rechtsaussen-Partei Nationale Aktion (heute Schweizer Demokraten). «Am Ende der ersten Besetzungswoche, als 15'000 Menschen trotz Sauwetter zur Grossdemo aufs Gelände kamen, wurde mir erstmals klar, welche Kreise die Besetzung zieht», sagt Musiker und Autor Aernschd Born (69).
«Die Angst war immer dabei»
Born war 1974 nach einem Konzert erstmals mit der Atomfrage konfrontiert worden. Ein Konzertbesucher fragte ihn, ob er an Anti-AKW-Anlässen auftreten würde. «Damals befasste ich mich erstmals mit Atomkraft – und mir wurde klar: So was darf nicht gebaut werden.» Denn menschliche Fehler würden sich bei dieser Technologie verheerend auswirken. «Die Angst vor einem Störfall war von Anfang an dabei», stellt er klar.
Mit seiner «Ballade vo Kaiseraugscht» wurde der damals 25-jährige Liedermacher zum Haussänger der Besetzer. Er erinnert sich etwa an die täglichen Vollversammlungen: «Die Marxisten hatten das Heu definitiv auf einer anderen Bühne als die gutbürgerlichen Besetzer. Sie waren sich nur in einem einig: dass Kaiseraugst verhindert werden muss.»
Ritschard drohte mit Rücktritt
Mehr als zwölf Wochen harrten die Besetzer aus – und provozierten fast eine Staatskrise. Die Aargauer Polizei war nicht auf die Besetzung vorbereitet, die Basler wollten sich nicht die Finger verbrennen. Der Bundesrat diskutierte, ob die Armee gegen die Besetzer aufgeboten werden muss, worauf SP-Bundesrat Willi Ritschard (1918–1983) mit dem Rücktritt drohte. Und so blieben die Soldaten in der Kaserne.
Allerdings: Spätere Demonstrationen gegen den Bau des AKW Gösgen wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen. Noch einmal liess sich der Staat, der 20 AKW bauen wollte, nicht überrumpeln.
«Kaiseraugst war ein Fanal»
Die Kaiseraugst-Besetzer aber zogen als Sieger davon: Das AKW wurde versenkt. «Kaiseraugst war ein Fanal: Es hat gezeigt, dass einfache Bürger politisch etwas bewegen können», so Born, der noch heute gegen Atomkraft kämpft.
Selbst ein AKW-Befürworter wie der heutige SVP-Nationalrat Maximilian Reimann (76), der nie auf der Baustelle war und mit den Kaiseraugst-Gegnern nichts zu tun haben wollte, sagt heute, dass ein drittes AKW im Raum Aare/Rhein «zu viel des Guten» gewesen wäre. «Wir im oberen Fricktal standen zwar grossmehrheitlich hinter dem nahen Werk in Leibstadt. Aber Lust auf ein weiteres hatten wir nicht.»
Der Aufschwung der Grünen
Eine, die damals auf der Baustelle demonstrierte, ist die heutige Ständerätin Anita Fetz (62). «Kaiseraugst hat mich politisiert», sagt sie. «Mich hat diese Ungerechtigkeit angetrieben: Dass eine ganze Region gegen ein AKW ist, der Bundesrat es aber über die Köpfe der Leute einfach ‹dureschtiere› will.» Und so ging sie jeden Tag nach der Schule nicht nach Hause, sondern nach Kaiseraugst. Zuerst politisierte sie für die ultralinke Poch, später trat sie in die SP ein – die damals erst zögerlich zu einer atomkritischen Haltung fand.
Anders die Grünen. Schon im Wahlkampf 1978 fand sich die berühmte «Atomkraft? Nein danke!»-Sonne auf den Wahlmaterialien, erinnert sich Luzius Theiler (78). Der Berner Ur-Grüne sagt: «Unsere kritische Haltung zur Atomfrage hat sicher zum Aufschwung der Grünen beigetragen.» Auch wenn das nicht einfach gewesen sei. «Wer zu Beginn der 70er auf die Risiken hinwies, wurde als Verschwörungstheoretiker verunglimpft.»
Basel gegen allen anderen
Hort der AKW-Gegner war die Region Basel. In anderen Landesteilen genoss die neue, scheinbar unerschöpfliche Energiequelle viel Zuspruch, wie sich Aernschd Born erinnert. Beim Flugblätterverteilen in anderen Landesteilen gab es für die AKW-Gegner vor allem Unverständnis und Hass. «Radikale Atomkraft-Befürworter trafen auf radikale Gegner», sagt er.
Die Atomfrage radikalisierte. 1979 gab es gar einen Sprengstoffanschlag auf das Auto von «Atom-Papst» Michael Kohn (93), Kopf hinter dem AKW Kaiseraugst. Das nächste Mal werde Kohn drinsitzen, liessen die Attentäter über die Medien ausrichten.
Es blieb nicht bei diesem einen Anschlag. «Der damalige junge Direktor des projektierten Werks, Ulrich Fischer, war ein guter Kollege von mir aus gemeinsamer Kanti-Zeit in Aarau», erzählt SVP-Nationalrat Reimann. «Von ihm bekam ich einiges zu hören, was da an illegalen und gewalttätigen Machenschaften in Kaiseraugst vonstatten ging – auch gegen ihn persönlich.»
Auch die AKW-Lobby mobilisierte
Doch auch die AKW-Lobby überlegte, eine Bürgerwehr zum Schutz der Anlagen aufzustellen. Und trat – auf Anregung von Bundesrat Ritschard – eine grosse Pro-Atom-Kampagne los.
Lange Zeit war diese eine der bestorganisierten Lobbys im Land, eng verwoben mit Politik und Verwaltung. Genützt hat es ihr zum Schluss wenig: 2011 läutete der Bundesrat den Atomausstieg ein. Den Grundstein dafür legte Kaiseraugst.