Dieses Jahr wird im Multipack gefeiert. Wir gedenken der Schlacht am Morgarten (1315), der Schlacht bei Marignano (1515) und zelebrieren die ewige Neutralität seit dem Wiener Kongress (1815). Doch ausgerechnet jetzt bricht ein Historikerstreit um die Mythen der Eidgenossenschaft aus!
Die Beteiligten: Christoph Mörgeli (54), Haushistoriker der nationalkonservativen SVP. Christoph Blocher (74), geschichtsbewusster SVP- Stratege, der die Schweizer Mythen bespielt wie kein Zweiter.
Und als Gegenspieler Thomas Maissen (52), jahrelang NZZ-Mitarbeiter für historische Analysen, heute als erster Nicht-Deutscher Direktor am Deutschen Historischen Institut in Paris (DHIP).
Der renommierte Professor für Geschichte hat sich zum Ziel gesetzt, den «Mörgeli in uns» zu vertreiben, wie er es nennt. Was er damit meint: die nationalkonservative Deutungshoheit vom Bund von 1291 bis zum Réduit im Zweiten Weltkrieg zu brechen und historische Fakten gegen die mythologische Fiktion zu setzen.
Das wiederum veranlasst Mörgeli zum Kommentar, Maissen sei lediglich ein «grundsatzloser Zeitgeistschwätzer». Die Schlacht um die Schweizer Mythen im jubiläumsschwangeren Jahr 2015 ist also eröffnet!
Nun geht Thomas Maissen in die Offensive. Er veröffentlicht ein Buch mit dem Titel «Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt». Ein Schweizer Geschichtsbuch zu ausgewählten Stichworten, denen der Professor stets ein Zitat des Politikers Christoph Blocher voran- und diesem seine historische Wahrheit entgegenstellt.
Der Bund von 1291
«Der Gotthard steht in höchstem Masse für die schweizerische Unabhängigkeit und Freiheit. Er ist Symbol und Mahnmal zugleich. Es ist kein Zufall, dass die Geburtsstunde unseres Landes – der Bundesbrief von 1291 – hier in der Nähe, auf dem Rütli – einer kleinen abgelegenen Wiese – beschlossen und beglaubigt wurde.» Christoph Blocher, 2011
«Der Bund von 1291», hält Thomas Maissen dagegen, «wurde nicht auf dem Rütli beschworen. Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass die führenden Männer von Uri, Schwyz und Nidwalden eine mühsame Reise zu einer abgelegenen Wiese in Kauf nahmen, wenn sie sich auch in einer Siedlung treffen konnten. Verstecken mussten sie sich nicht: Ihr Bund war keine heimliche Verschwörung wie der Rütlischwur, den Friedrich Schiller dichterisch überhöhte. Selbst wenn es den Rütlischwur je gegeben hätte, so hatte er mit dem Bund von 1291 nichts zu tun.»
Wilhelm Tell
«Hier am Gotthard entstand unser schweizerischer Staatsmythos, der sogar ein doppelter ist: Die Geschichte vom Einzelgänger Wilhelm Tell, der zum Tyrannenmörder wurde. Und die Geschichte vom Rütlischwur als Zeichen des Zusammenstehens, der Gemeinschaft – einer echten, der Solidarität. Man kann viel Abschätziges hören und lesen über die Gründungsgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das seien ja alles nur Mythen. Ja und?» Christoph Blocher, 2011
Blochers Einschätzung für die Überhöhung des Gründungsaktes unseres Landes mag Thomas Maissen nicht widersprechen. Lapidar hält der Historiker fest: «Es ist nicht besonders originell festzuhalten, dass Willhelm Tell nie existiert hat.»
Und weiter: «Zwar gibt es Autoren, die sich in Publikationen mit dem alles sagenden Titel ‹... und es gab Tell doch› oder ‹Wilhelm Tell – nicht umzubringen› über die Frage ereifern können. Aber Zweifel an seiner Existenz sind praktisch gleich alt wie sein literarisches Leben.»
Dieses setzte ein mit der ersten, im Jahr 1507 in Basel gedruckten Schweizer Geschichte «Kronika von der loblichen Eydtgnoschaft». Und so gelangte Tell bis zum Aufklärer Friedrich Schiller, der diesem Namen mit seinem Freiheitsdrama Unsterblichkeit verlieh.
Die Unabhängigkeit
«Wettstein erreichte vor 350 Jahren durch seine diplomatische Mission bei Verkündung des Westfälischen Friedens die europäische Anerkennung der Souveränität.» Christoph Blocher, 1998
Dem entgegnet der Professor für Geschichte: «Viele Schülergenerationen konnten die schweizerische Staatsbildung in der Vormoderne in einer Formel zusammenfassen, die bis heute dumpf repetiert wird: (...) 1648 rechtliche Unabhängigkeit und Loslösung vom Deutschen Reich. Die Formel ist ebenso falsch wie kurz.»
Worum geht es? Der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein reiste 1646 ins westfälische Münster, wo ein umfassender, der Westfälische Friede den Dreissigjährigen Krieg beenden sollte. Der Basler wollte die Gelegenheit nutzen und dem habsburgischen Kaiser für die jüngeren Orte der Eidgenossenschaft gewisse rechtliche Privilegien abtrotzen. Er sprach bei der Begründung dieses Anliegens von «Freyheit, Souverainetet und Herkommen» der Eidgenossen.
«Es war wohl das erste Mal überhaupt», schreibt Maissen, «dass das Wort Souveränität in die deutsche politische Sprache eindrang.» Wettstein war mit seinem Anliegen zwar erfolgreich. Dies aber als Geburtsstunde der rechtlichen Unabhängigkeit zu sehen, ist für den Historiker nicht statthaft. Denn das Zugeständnis der Habsburger an die Eidgenossen war nicht völkerrechtlicher Natur, sondern erfolgte nur «im Rahmen des Reichsrechts».
Neutral seit Marignano
«Auf die Schlacht von Marignano geht unsere Neutralität zurück, die ist viel älter als der Bundesstaat.» Christoph Blocher, 2010
Marignano, in der italienischen Lombardei gelegen, gilt als eine der letzten grossen Schlachten, an der die alte Eidgenossenschaft beteiligt war. Es ging um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Eidgenossen und Frankreich um das Herzogtum Mailand – und gilt als Ausdruck einer kurzen historischen Phase, während der die Eidgenossenschaft mit einem koordinierten Soldwesen eine eigenständige Grossmachtpolitik zu betreiben suchte.
«Der 13./14. September 1515 in Marignano war nicht zuletzt ein epochaler Sieg der neuen und teuren Kriegstechnologie», urteilt Historiker Maissen, «die bewegliche Artillerie der Franzosen zerschoss die eidgenössischen Infanteriegevierte, deren Zeit als militärische Avantgarde in Europa damit zu Ende ging.»
War diese Niederlage die Geburtsstunde der schweizerischen Neutralität? «Nein», sagt Maissen und schreibt: «An Neutralität und Mässigung dachten die Eidgenossen deswegen noch lange nicht.» Bern etwa eroberte 1536 die Waadt. Mehr noch: «In den folgenden Jahrhunderten hatten die Schweizer weiterhin einen erheblichen Anteil an den europäischen Kriegen», urteilt Maissen, «wenn auch nicht unter eigenen Fahnen, so doch in fremden Diensten.»
Bundesverfassung 1848
«Unser Land hatte 1848 mehr als genug von den Zumutungen, den Einmischungen und den Erpressungsversuchen fremder Regierungen.» Christoph Blocher, 1998
Die Bundesverfassung von 1848 als nationaler Akt der Einigung der Eidgenossenschaft gegen die Einflussnahme fremder Mächte? Das sieht Thomas Maissen entschieden anders. «Die fünfzig Jahre zwischen 1798 und 1848 waren von dauernden Konflikten und wiederholten Waffengängen in und zwischen den Kantonen geprägt», schreibt er, «ehe nach einem letzten Bürgerkrieg die Bundesverfassung von 1848 entstand.»
Und weiter: «In den 1840er Jahren standen sich eine liberale und eine konservative Vision der Schweiz gegenüber, und weil institutionelle Wege der Lösung fehlten, entschieden die Waffen. Die Sieger des Sonderbundskrieges nutzten umgehend ihre innenpolitische Dynamik und die aussenpolitische Schonfrist, als 1848 in allen Nachbarländern ebenfalls nationalliberale Revolutionen ausbrachen und zumindest vorübergehend die Monarchen völlig in die Defensive drängten.
In wenigen Monaten wurde die Bundesverfassung geschrieben, die den Gegensatz zwischen liberalkonservativen Föderalisten und radikalen Zentralisten mit einem Ständerat für Erstere und einem Nationalrat für Letztere löste.»
Direkte Demokratie
«Die drei ‹Länder› der Urschweiz entschieden sich für Eigenverantwortung, für Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung. Der Rütlischwur und die Landsgemeinden bilden darüberhinaus den Ursprung einer ausgeprägten Volksherrschaft, unserer heute weltweit einzigartigen, viel beneideten direkten Demokratie.» Christoph Blocher, 2005
Ein verklärtes Bild ist dies für Thomas Maissen. Eine Volksherrschaft von Gleichen sieht der Historiker in der Eidgenossenschaft keineswegs. «Die Eidgenossen», schreibt er, «waren in dieser ständischen Gesellschaft keine Ausnahme. Sie schauten auf Untertanen hinab und wussten, dass Könige und Adlige einen höheren Rang beanspruchen durften. Der Bund von 1291 hielt entsprechend fest, dass ‹jedermann nach dem Stande seines Geschlechts gehalten sein soll, seinem Herrn nach Gebühr untertan zu sein und zu dienen›.»
In den Städten bestand die Herrschaftsschicht entweder «aus Patriziern, die Auskommen und Status als Gutsherren und als Soldunternehmer erwarben» – so in Bern, Luzern, Freiburg, Solothurn –, oder aus «Zunftmeistern und Kaufleuten», die «von Gewerbe und Handel lebten» wie in Zürich, Basel oder Schaffhausen. Neben der stadtbürgerlichen Herrschaft konnten in der Waldstätte, in Glarus, Appenzell, Graubünden oder im Wallis «nichtadlige landsässige Familien dauerhaft und exklusiv Herrschaft ausüben».
Oft war hier, in den Alpentälern, die Viehzucht die gemeinsame Existenzgrundlage. «Sie erforderte oft genossenschaftliches Wirtschaften und Absprachen etwa bei der Alpnutzung», berichtet Maissen. «Auch daraus entwickelte sich politische Mitbestimmung der Vollbürger bei der Landsgemeinde. Sie besetzte die Ämter durch Wahlen und entschied über aussenpolitische Fragen oder Abgaben. Ausgeschlossen von dieser Herrschaft blieben aber auch hier Hintersassen und Untertanen, von Frauen nicht zu reden.»
Das Réduit
«Die Schweiz zeigte unter gewaltigen Opfern einen Widerstandswillen, der seinesgleichen sucht.» Christoph Blocher, 1997
Es ist ein Satz wie eine Keule: «Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs», urteilt Thomas Maissen, «kann geschrieben werden, ohne die Schweiz zu erwähnen.» Und weiter: «Die heutige Schweiz wird aber niemand verstehen, der die Jahre 1933 bis 1945 nicht gründlich berücksichtigt.
So unbedeutend die Schweiz, insgesamt betrachtet, für die Weltpolitik dieser Jahre war, so zentral ist diese Zeit im kollektiven Gedächtnis des Landes. Die Rede von den ‹gewaltigen Opfern› und einem ‹Widerstandswillen, der seinesgleichen sucht›, ist eine Beleidigung der vielen Völker, die ab 1939 tatsächlich kämpften, enorme Opferzahlen zu beklagen hatten und den Willen zum Widerstand nicht nur bekundeten, sondern auch bewiesen – im Unterschied zu den Schweizern, denen die Nagelprobe erspart blieb.
Diese Realität geriet in den Nachkriegsjahren zusehends aus dem Blickfeld. Die Schweizer heroisierten ihren Widerstand, die Ausländer kümmerte das nicht.»
Der Sonderfall Schweiz
«Die Schweiz hat sich 1848 aus eigener Kraft eine neue, liberale und freiheitliche Gestalt gegeben: Unser Land hatte damals endlich den Mut, einen Sonderfall zu schaffen.» Christoph Blocher, 1998
Jedes Land ist ein Sonderfall, sagt Thomas Maissen, jede Nation pocht auf ihre Andersartigkeit. «Die Geschichtsforschung nennt dies Exceptionalism. Jede Nationalgeschichte konstruiert den Sonderfall eines Volkes, das wegen seiner einzigartigen Qualitäten und historischen Erfahrungen dazu legitimiert ist, als politische Nation selbständig zu sein.»
Die Italiener? Eine «Kulturnation, die seit Dante die Welt beglückt». Die Franzosen? «Geben die Staatsnation, welche die Menschen- und Bürgerrechte und die moderne Demokratie erfunden hat.» Die Amerikaner? «Sehen dieselbe welthistorische Tat als Leistung ihres Bundesstaats.» Die Deutschen? Ihnen «gelingt das schwere Kunststück, ein Volk von Dichtern und Denkern mit dem Kulturbruch des Völkermords als Sonderweg zusammen zu denken».
Die Schweiz mag ein Sonderfall sein – aber die anderen sind es auch. Was wiederum den eigenen Sonderfall relativiert.
Das Fazit: Mythen haben wie Märchen, Sagen oder Legenden zweifellos ihre Wahrheit. «Skeptische Vorsicht» fordert Thomas Maissen dann ein, wenn die Interpretation sich wandelnder Mythen jenen überlassen wird, die «in stolzer Selbstüberschätzung» behaupten, man könne dann durch den Nebel der Zukunft hindurchsehen, «wenn man nur standhaft rückwärts schaue». Und es ist der Historiker, der die Heldengeschichten der Nation immer auch an den historischen Quellen messen muss.