So schnell änderte sich das Klima zwischen der Schweiz und der EU. Vor einem Monat herrschte Tauwetter – und nun tiefste Eiszeit. Doch wie kam es dazu, dass die EU vorgestern die Börsenäquivalenz für die Schweiz nur befristet erteilte und der Bundesrat die Zahlung der Ostmilliarde neu beurteilt?
Gespräche mit Experten ergeben ein bruchstückhaftes Bild: Neben der unterschiedlich gewichteten Bedeutung eines Rahmenabkommens in Bern und Brüssel dürften Verhandlungsstrategien, taktische Aussagen, grosse Egos und der Brexit die Hauptgründe für das Säbelrasseln sein.
Mieses Spiel von Juncker
Entscheidend war der 23. November 2017. Und eine ganz gezielte, man könnte auch sagen clevere Aussage von Jean-Claude Juncker (63) in Bern. Er und Doris Leuthard (54) seien übereingekommen, bis im Frühling einen Durchbruch bei den Verhandlungen um ein institutionelles Rahmenabkommen zu erzielen, so der EU-Kommissionspräsident damals vor den Medien.
Die Bundespräsidentin sagte nichts dazu, sondern lächelte säuerlich, um vor laufenden Fernsehkameras einen Eklat zu verhindern. Zuvor wurde Juncker aber klargemacht, dass der Bundesrat den Termin nicht bestätigen werde. «Wir haben Herrn Juncker absolut nicht gesagt, dass wir den Rahmenvertrag bis April abschliessen wollen. Das ist sein Wunsch, und er hat jedes Recht, solche Wünsche zu haben», sagte Aussenminister Ignazio Cassis (56) am Donnerstag im welschen Fernsehen.
Eskalation wegen Simonazzi-Aussage im BLICK
Doch Juncker entschied sich für die Taktik, mit einer öffentlichen Verlautbarung Fakten zu schaffen. Bundesratssprecher André Simonazzi (49) relativierte den Termin dann aber bereits am Tag danach im BLICK. «Den Termin vom Frühjahr hat Herr Juncker vorgegeben», sagte er. Ein Rahmenabkommen ist zwar das Ziel der Schweizer Regierung. Der Bundesrat halte aber an seiner Politik «Inhalt vor Tempo» fest, so Simonazzi weiter.
Juncker liest den BLICK – und dieser Satz liess den Geduldsfaden beim Luxemburger reissen. So erzählen es zumindest hohe EU-Funktionäre. Andere sagen, dass Juncker ganz gezielt auf eine Eskalation hingearbeitet habe. Und nun Simonazzis Statement als Rechtfertigung für die EU-Machtdemonstration benutze.
Kommunikation ist Teil von Verhandlungsgeschick
Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie die EU vorgeht: Kommunikation gehört in Brüssel zur Verhandlungstaktik. Junckers Team zitiert auch gerne Korrespondenten für Erklärungen zu sich. Zum Teil entsprächen diese aber nicht ganz der Wahrheit.
«Ich habe die Haltung des Bundesrats aus den Gesprächen mit Herrn Juncker wiedergegeben. Das war selbstverständlich auch mit der Landesregierung abgestimmt», sagte Simonazzi gestern zu seiner damaligen BLICK-Äusserung, die nun gehörig für Wirbel sorgt. Juncker, so scheint es, spielte mit seiner Datumsnennung ein ganz mieses Spiel.
Leuthards Ego und der Scherbenhaufen
Doch Juncker allein für die Eiszeit verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Der Bundesrat hat versagt. Allen voran Bundespräsidentin Leuthard. Rückblickend war es ein grober Fehler, auf ein Gipfeltreffen mit Juncker in Bern zu drängen. Denn Juncker sagte einer Reise nur unter der Bedingung zu, etwas zu bekommen. Und so stellte Leuthard an diesem Tag die Ostmilliarde in Aussicht.
Juncker selber hatte nichts Substanzielles im Aktenkoffer. Die Schweiz kassierte stattdessen zwei schallende Ohrfeigen: Am 5. Dezember setzte die EU die Schweiz auf eine «graue Liste» der Steueroasen. Und vor zwei Tagen entschied die EU-Kommission, die Schweizer Börse gegenüber anderen Börsenplätzen zu diskriminieren.
Leuthard wollte ihr Präsidialjahr mit einem Juncker-Treffen ruhmvoll abschliessen, nun steht sie vor einem Scherbenhaufen. Wirklich überraschend ist dies nicht: Schliesslich ist es ganz normal, dass die EU ohne adäquates Gegengeschäft der Schweiz keine definitiven Zusagen macht. Und die Ostmilliarde muss noch durchs Parlament, sie ist noch lange nicht definitiv gesprochen.
Ein falscher Ehrgeiz der CVP-Magistratin machte den EU-Machtpoker also erst möglich.
Harte Bandagen wegen Brexit
EU-Mitgliedsstaaten wurden am Gipfel letzte Woche oder kurz danach über die befristete Äquivalenzerklärung unterrichtet. Nicht alle waren begeistert, obwohl sie mit Ausnahme Grossbritanniens dann unisono zugestimmt haben. Vor allem osteuropäische Staaten fürchten sich jetzt, den substanziellen Kohäsionsbeitrag der Schweiz nicht zu erhalten. Dennoch ist die Schweiz jetzt isoliert.
Dass die Situation mit der Schweiz eskalierte, hat aber auch EU-interne Gründe. Die Union zieht die Schraube gegen die Schweiz wegen der Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien an. Die EU will so rasch wie möglich ein Rahmenabkommen mit der Schweiz, um ein Präjudiz für die Briten zu schaffen.
Die befristete Äquivalenzerklärung scheint die perfekte Botschaft dafür: Denn sie zeigt dem Finanzplatz London, was passieren kann, wenn man nicht EU-Mitglied ist, aber dem Binnenmarkt angehören möchte.
Verhandlungstaktische Anfängerfehler
Der Streit um ein Rahmenabkommen schwelt seit einem Jahrzehnt. Damals forderte die EU ein solches als Basis für die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen. Der Bundesrat hätte wissen müssen, dass die EU irgendwann den Druck erhöht. Trotzdem hat Bern weitergewurstelt. Aussitzen, hiess über Jahre die europapolitische Devise.
Dabei könnte das Abkommen längst unter Dach und Fach sein. Wenn nicht über einzelne Dossiers separat, sondern gleichzeitig über viele relevante Themen der Beziehung Schweiz-EU verhandelt würde. Beim Rahmenabkommen allein ist eine für einen Abschluss nötige Win-win-Situation kaum zu erzielen. Es braucht mehr Verhandlungsmasse mit Osthilfe, Stromabkommen, Äquivalenzanerkennung. Das Schweizer Volk braucht mehr als ein Goodie, sonst ist ein Rahmenabkommen chancenlos.
Immerhin: Dies ist die grosse Chance für Aussenminister Cassis. Er kann den Reset-Knopf bei der Verhandlungstaktik drücken und den Versuch starten, EU-Dossiers stärker zu verknüpfen und parallel zu verhandeln. So kann auch die Schweiz ihre Trümpfe besser in die Waagschale werfen. Damit Juncker den Bundesrat nicht erneut so unerbittlich ins offene Messer laufen lässt.