Zimmer 665, dritter Stock, Spital Visp VS. Viola Amherd (56) blickt mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Fenster. Am Abend zuvor war die Bundesratshoffnung der CVP-Frauen in den Siebzigerjahrebau eingeliefert worden. Ist es ein Zeichen?
Kolik, Erbrechen, Schwindel. Diagnose: Nierenstein. An diesem Montag vor einer Woche ist Viola Amherd stabil, aber schwach. Und sie ist konsterniert. «Nierensteine?! So etwas hatte ich noch nie. Warum gerade jetzt?» Das bringe einen schon zum Nachdenken, sagt sie. Nachgedacht hatte Amherd eigentlich zu Ende.
Eigentlich hätte BLICK die Oberwalliserin in Bern zum Interview treffen sollen. Am nächsten Tag wollte sie verkünden, dass sie ins Rennen um die Nachfolge von Bundesrätin Doris Leuthard (55) steigt. Nun habe sie «keine Ahnung, wann sie mich hier rauslassen», sagt Viola Amherd am Telefon. Das Interview will sie durchziehen. «Halt am Spitalbett, wenn es Sie nicht stört.» Aber bitte ohne Fotograf. «Meine Frisur will ich der Schweiz heute nicht zumuten.»
Viola Amherd, Anwältin, seit 2005 Nationalrätin, seit 2011 Fraktionsvizepräsidentin, zuvor Briger Stadtpräsidentin, CVP-Feministin, ledig und kinderlos: Wird diese Frau die nächste Landesmutter?
Die Zeit der Heckenschützen setzt der Anwältin zu
Während Amherd im Spital Visp versucht, die Schmerzen in der rechten Seite zu kurieren, leckt sie noch ganz andere Wunden: Dem Nierenstein-Drama vorausgegangen war eine Polemik um einen Zivilprozess, wie ihre Fürsprecher es nennen, oder ein Skandal, so ihre Gegner (siehe Textkasten).
Die Zeit der Heckenschützen nennt man die Wochen vor Bundesratswahlen. Amherds Gerichtsfall war bereits Mai 2018 entschieden worden. War sie so naiv und hat dessen Potenzial als Patrone unterschätzt?
Eine Erbengemeinschaft, zu der Viola Amherd gehört, soll 250 000 Franken zu viel Miete kassiert haben. Ihre Mieterin, der Energiekonzern Alpiq, klagte und bekam vor Bezirksgericht Recht. Amherd und ihre Schwester haben das Urteil ans Kantonsgericht weitergezogen. Ihr Standpunkt: Sie hätten nie einen Vertrag über eine Mietzinsreduktion unterzeichnet, sondern ein Papier, das die Verhandlung über den Mietzins dokumentierte. «Ich habe meine Buchhaltung im Griff. Die Alpiq offenbar nicht», sagt Viola Amherd.
Eine Erbengemeinschaft, zu der Viola Amherd gehört, soll 250 000 Franken zu viel Miete kassiert haben. Ihre Mieterin, der Energiekonzern Alpiq, klagte und bekam vor Bezirksgericht Recht. Amherd und ihre Schwester haben das Urteil ans Kantonsgericht weitergezogen. Ihr Standpunkt: Sie hätten nie einen Vertrag über eine Mietzinsreduktion unterzeichnet, sondern ein Papier, das die Verhandlung über den Mietzins dokumentierte. «Ich habe meine Buchhaltung im Griff. Die Alpiq offenbar nicht», sagt Viola Amherd.
Vielleicht habe sie als Anwältin eine Déformation professionelle, sagt Amherd. «Zivilprozesse sind für mich Alltag. Und ich schätze das nicht als Hindernis für eine Bundesratskandidatur ein.» Sie habe schliesslich «keinen Strafprozess am Hals». Trotzdem geht ihr «die Sache», wie sie es nennt, nahe. Ausgerechnet das Lokalblatt «Walliser Bote» machte die Mietstreitigkeit öffentlich. Und ausgerechnet dort wird sie abschätzig als politisches Mauerblümchen betitelt.
«Meine Mutter würde mir raten, die Kandidatur sausen zu lassen»
Und jetzt noch dieser Nierenstein. Amherd wird operiert, darf nach fünf Tagen nach Hause, hat Komplikationen und muss zurück ins Spital. Nein, sie lasse sich nicht ausbremsen, sagt Amherd. Und fragt sich dennoch: Soll ich tatsächlich kandidieren?
Was würde ihre verstorbene Mutter ihr raten? «Meine Mutter würde sagen: Kiene doch der Plunder dar …», sagt Viola Amherd auf Walliserdeutsch und lacht. Das bedeute: Lass es sein, rege dich nicht auf, Viola, lass andere Zielscheibe werden. «Sie würde mir raten, die Kandidatur sausen zu lassen.»
Sie habe nie Politikerin, geschweige denn Bundesratskandidatin werden wollen, beteuert Amherd. Doch seit Doris Leuthard (55) im Sommer 2017 ihren Rücktritt ankündigte, wird sie als Favoritin gehandelt. Und jetzt sagt Nichte Lia (33), die für Amherd wie eine Tochter ist: «Gotta, du musst das mit dem Bundesrat machen!»
Auch Amherds enge Freundin Brigitte Hauser-Süess (65), einstige CVP-Frauenpräsidentin, Königinnenmacherin von alt Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (62) und ehemalige engste Mitarbeiterin von Leuthard fordert: «Viola, du musst antreten. Dieser Sitz soll durch eine Frau ersetzt werden.»
Viola Amherd pflegte ihre demente Mutter zu Hause
War Amherds Hadern mit der Kandidatur Koketterie oder Berechnung? Die Antwort liegt im Wallis der frühen Neunzigerjahre. Viola Amherd, damals als junge Jus-Absolventin gerade aus Freiburg zurück im Tal, engagiert sich für familienpolitische Anliegen, baut eine Tagesmüttervermittlung auf. Die CVP will sie in den Vorstand holen und für den Stadtrat aufstellen. Aber Amherd will nicht.
«Ich musste Viola damals fast zur Kandidatur prügeln», berichtet Hauser-Süess rückblickend. Und Amherd selbst erinnert sich: «Brigitte redete auf mich ein: Jetzt sagst du immer, wir Frauen hätten keine Chance. Jetzt hast du eine und sagst Nein?!»
Sie war überredet und schaffte es 1992 in die städtische Exekutive, wird später zwölf Jahre lang Stadtpräsidentin von Brig-Glis. Bei der Staatsratswahl 2000 kommt es zur Blamage für die CVP: Statt Amherd wird der Visper SP-Nationalrat Thomas Burgener (64) gewählt. Trotzdem: Sie ist zuletzt die bestgewählte Walliser Nationalrätin.
Sie klettert die politische Leiter hoch. Und pflegt parallel daheim gemeinsam mit der Schwester die demente Mutter. Findet Amherd niemanden, der auf das Mami aufpasst, nimmt sie sie kurzerhand an Veranstaltungen mit. Zu Anfang hätten die Leute noch komisch geschaut. Aber die Tochter will die Mutter nicht verstecken. «Sie hat uns als Mädchen sehr gestärkt. Ich wollte ihr etwas zurückgeben. Ich schämte mich sicher nicht wegen meiner Mutter.»
«Ich lebe schon immer als Single. Ich bin frei»
Von der Ehefrau eines Elektrogeschäft-Besitzers und CVP-Mitglieds hat Viola Amherd ihr Lebenscredo eingebläut bekommen: «Bleibe selbständig, Viola. Mach dich ja nie von irgendjemandem abhängig. Du musst als Frau für dich allein kämpfen.» Privat tut Amherd dies auf konsequente, fürs konservativ geprägte Oberwallis radikalste Weise: Sie bleibt kinderlos und «überzeugte Ledige». Hat sie sich nie eine Liebe gewünscht?
«Ich sage nicht, dass ich mich nie verliebt hätte», sagt Amherd. «Aber ich hatte nie das Ziel, eine Partnerschaft zu leben. Ich lebe schon immer als Single. Und das ist schön so. Ich bin frei.»
Die politische Dimension ihrer Lebensform redet sie im Gespräch klein. «Passe ich als ledige, kinderlose Frau zur CVP?», fragt sie rhetorisch. Und wird dann doch energisch: «Natürlich! Ich lebe auch in einer Familie. Die besteht halt einfach nicht aus Mann, Frau und Kind. Sondern aus mir, meiner Schwester und ihrer Tochter. Gott sei Dank kennt die CVP heute verschiedenste Lebensformen!»
Ihre 14 Jahre ältere Schwester wurde spät Mutter und blieb wie Viola Amherd unverheiratet. «Für unsere Eltern war das überhaupt kein Problem», sagt sie. «Vielleicht waren wir eine etwas spezielle, fortschrittliche Familie.»
Auffallend: Mit ihrer Positionierung für die «Ehe für alle» und das Adoptionsrecht für Homosexuelle bricht Amherd abermals ein christdemokratisches Tabu. Was wenige noch wissen: Amherd kämpfte Ende der Neunzigerjahre im Windschatten von Hauser-Süess für das Ja der CVP-Frauen zur Fristenlösung. Die Frauen der CVP lehnten sich damals frontal gegen die patriarchale Parteileitung auf. Die CVP-Männer verteufelten jegliche neue Abtreibungs-Gesetzgebung.
Amherd kämpfte für die Fristenlösung – und heute für die Frauenquote
«Unsere Gegner behaupteten damals, die Frauen würden die Pille nicht mehr nehmen und halt abtreiben», erinnert sich Amherd. «Wenn ich nur schon daran denke, rege ich mich auf.» Aufgewühlt hat sie auch eine Plakatkampagne 1997, in der Hauser-Süess als Babymörderin verunglimpft wurde. Wallisweit hing ihr Foto neben dem eines toten Fötus. Mit Hilfe von Anwältin Amherd verklagte Hauser-Süess die Täter bis ans Bundesgericht. «Dass ich diesen Prozess führte, war Ehrensache. Wenn eine von uns derart angegriffen wird, braucht es Frauensolidarität.»
Ob ihr die Frauensolidarität 2018 den Weg in die Landesregierung ebnet, ist fraglich. Doris Leuthard fiel den CVP-Frauen bereits in den Rücken. Rückendeckung verspricht die Linke. SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher (54), Amherds Nachfolgerin an der Spitze der Verkehrskommission, sagt: «Die Frauensolidarität mit ihr in Bern ist gross, weil sie über Jahre im Hintergrund Frauen in allen Parteien stärkte.» Amherd mache feministische Politik, ohne dabei laut zu werden. Resultat davon: Auffallend viele Frauen haben einflussreiche Kommissionspräsidien inne. «Sie schaut gut zu uns», sagt CVP-Frau Ida Glanzmann (60), Vizepräsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission.
Wie einflussreich ist die Frau also unter der Bundeshauskuppel? Amherd sei kein Mauerblümchen, eher eine mächtige Mauerblume, sagen mehrere Spitzenpolitiker. Vernetzt ist sie bis in die SVP: Kantonskollege Franz Ruppen (47), dem Juristin Amherd einst die Notariatsprüfung abnahm, schätzt den Austausch. Man helfe sich gegenseitig gern. Wird der Rechtsaussen-Politiker sie wählen? «Mit Karin Keller-Sutter wäre die bürgerliche Mehrheit rechts der Mitte im Bundesrat gestärkt beziehungsweise gesichert. Zudem wären mit Viola Amherd die Interessen der Berggebiete endlich wieder vertreten. Diese Kombination wäre valabel», sagt er.
Trotzdem: Amherds Engagement für Jugendschutz, gegen Sexting und für die Integration von Ausländern macht sie für konservative CVPler und die SVPler zum roten Tuch. Sie ist für eine Frauenquote, «sonst passiert ja nichts», für die Widerspruchslösung bei Organspende und einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub. «Wenn die Schweiz sich das nicht leisten kann, dann weiss ich auch nicht.» Die Armeeabsenzen seien ja auch kein Problem.
Und plötzlich will Amherd Burkas verbieten
Und da ist noch das mit der Burka. «Ich bin hin- und hergerissen: Eigentlich war ich gegen die Initiative», sagt Amherd. «Aber wenn ich vollverhüllte Frauen sehe, bekomme ich Bauchschmerzen.» Da werde eine religiöse Regel missbraucht, um Frauen zu unterdrücken. Die Feministin in ihr sei für ein Burkaverbot auf Gesetzesebene. Aussagen, die die SVP aufhorchen lassen. Strategin Amherd weiss das am besten.
Viola Amherd könne durchaus mit Stimmen der Rechten rechnen, sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri (63). Im Parlament habe sie «überhaupt nicht den Ruf einer Linken, aber im Wallis gelten offenbar andere Massstäbe – da gilt man vielleicht schneller als links.» Tatsächlich politisiert die Tochter eines KMU-Unternehmers in Wirtschaftsfragen liberal. So ist sie gegen einen besseren Kündigungsschutz für ältere Angestellte. Amherd werde unterschätzt, weil sie vordergründig ein stilles Wasser sei, sagt Fluri. Dabei spreche sie erst dann, wenn es Sinn mache. «All dies macht sie zu einer sehr guten Bundesratskandidatin.»
Nach eineinhalb Wochen Hadern sagt sie Ja
Zimmer 665, Spital Visp VS. Eineinhalb Wochen nach der Einlieferung packt Viola Amherd endlich ihre Sachen. «Ich hatte jetzt gezwungenermassen mehr Zeit als vorgesehen zum Nachdenken», sagt sie. Hunderte SMS und Mails hätten sie im Spitalbett erreicht – «und alle machten mir Mut zur Kandidatur».
Und so verlässt sie heute den Siebzigerjahrebau, atmet ihre geliebte Walliserluft und sagt: «Ja, ich will Bundesrätin werden.»
Wird sie am 5. Dezember nicht Bundesrätin, ist ihre Zeit in Bern spätestens Ende Legislatur vorbei. Dann wird Viola Amherd zum gefühlt 20. Mal in ihre Lieblingsstadt fliegen. In New York könne jeder so leben, wie er wolle, schwärmt sie. Ob Mauerblümchen oder mächtige Mauerblume.