Es ist wie bei einer Drogenrazzia: Um sieben Uhr morgens stehen mehrere Polizisten vor der Haustür von Florence B.* in Lausanne VD. Sie zeigen dem Klimaaktivisten einen Hausdurchsuchungsbefehl der Bundesanwaltschaft, treten in seine Studentenwohnung und wühlen zwei Stunden lang in seinen Sachen. Die Polizisten beschlagnahmen alle elektronischen Geräte und verhören den Klimaaktivisten später während vier Stunden.
Was Florence B. nicht weiss: Parallel verhaftet die Bundeskriminalpolizei zwei weitere Westschweizer Klimaaktivisten. Justizministerin Karin Keller-Sutter (57, FDP) hatte die Bundesanwaltschaft Ende Januar ermächtigt, ein Strafverfahren zu führen, wie der «Tages-Anzeiger» öffentlich machte. Solche Ermächtigungen seien die Regel, eine Verweigerung die Ausnahme, heisst es von Seiten des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Zudem habe die Bundesanwaltschaft die Hausdurchsuchung unabhängig vom EJPD angeordnet.
Aufruf zum Militärstreik
Die Behörden werfen den Klimaaktivisten vor, zur Verweigerung des Militärdienstes aufgerufen zu haben – dies ist nach Artikel 276 des Strafgesetzbuches strafbar. Der Waadtländer Klimastreik hat letzten Sommer in einem offenen Brief an den Bundesrat einen Militärstreik gefordert. «Wir sind nicht einverstanden, Ihrer umweltverschmutzenden, gewalttätigen, machohaften (...) teuren und nutzlosen Institution Geld und Zeit zu geben», schrieben die Aktivisten.
Meinungsfreiheit gefährdet?
Tobias Vögeli (25), Co-Präsident der Jungen Grünliberalen, teilt die Meinung der Aktivisten nicht. Er will weder die Armee abschaffen noch die Wehrpflichtabgabe streichen. Der Polizeieinsatz erschüttert ihn dennoch: «In einer freien Gesellschaft müssen alle ihre Meinung sagen können. Es geht nicht, dass die Polizei derart repressiv gegen Klimaaktivisten vorgeht.»
Der Jungpolitiker, der sich gegen das Anti-Terror-Gesetz einsetzt, fürchtet, dass politische Aktivisten künftig noch stärker ins Visier der Polizei geraten. «Die Hausdurchsuchung bei Florence B. zeigt, dass der Staat schon heute sämtliche Mittel ausschöpft, um gegen politische Gegner vorzugehen», sagt er. «Mit dem Anti-Terror-Gesetz bräuchte er dazu nicht einmal mehr einen Hinweis auf eine Straftat.»
Keller-Sutter beschwichtigt Corona-Skeptiker
Das Anti-Terror-Gesetz sieht vor, dass die Polizei präventiv gegen Personen vorgehen kann, wenn sie vermutet, dass von ihnen eine terroristische Gefahr ausgeht. FDP-Bundesrätin Keller-Sutter hatte in der SRF-«Arena» beschwichtigt, Klimaaktivisten und Corona-Skeptiker müssten sich deswegen keine Sorgen machen. «Sie protestieren, das ist absolut legitim», sagte sie zu einem Corona-Skeptiker. «Die Schweiz ist eine lebendige Demokratie und jeder kann denken und machen, was er will.»
JGLP-Chef Tobias Vögeli sagt, er habe der Justizministerin vertraut. «Ich habe Karin Keller-Sutter ehrlich geglaubt, dass sie nicht gegen Klimaaktivisten vorgehen wird.» Nach den Ereignissen in Lausanne ist sein Vertrauen arg erschüttert.
Harte Strafen in Frankreich
Die Juso protestierte am Freitag mit einer in einem Käfig eingesperrten Klimaaktivistin auf dem Bundesplatz ebenfalls gegen den Polizeieinsatz. Präsidentin Ronja Jansen (26) fürchtet, dass die Polizei mit dem Anti-Terror-Gesetz nicht nur öfter, sondern auch härter gegen Aktivisten vorgeht. «Das Gesetz sieht deutlich repressivere Massnahmen vor als eine Hausdurchsuchung», sagt sie.
So könnte die Polizei Personen künftig Kontakte verbieten, sie an einer Ausreise hindern oder unter Hausarrest stellen. «Das ist nicht irgendein Schreckgespenst», sagt Jansen und verweist auf die Gesetze in Frankreich, die nach den Terroranschlägen von 2015 verschärft wurden. Seither haben die Behörden mehrere Klimaaktivisten ohne richterlichen Beschluss unter Hausarrest gestellt.
* Name geändert
Anti-Terror-Gesetz zur Abstimmung am 13. Juni: Die wichtigsten Fragen