Seit Mitternacht tickt sie wieder, die Weltkriegsuhr. US-Aussenminister Mike Pompeo (55) sagte gestern, dass sein Land sich ab Samstag nicht mehr an den Sperrvertrag für atomare Mittelstreckenwaffen halten werde, welcher 1987, also noch zu Sowjetzeiten, unterzeichnet wurde! Eine entsprechende Note solle auch an andere Rechtsnachfolger der früheren Sowjetrepubliken gehen, hiess es vorab aus dem Weissen Haus.
Der INF-Vertrag (INF steht für «Intermediate Range Nuclear Forces»), wie das Abkommen zwischen Amerika und Russland genannt wird, sorgte im Kalten Krieg vor über dreissig Jahren für wichtige Ruhe: Er verpflichtete beide verfeindete Staaten, auf landgestützte Raketen und Marschflugkörper zu verzichten, die zwischen 500 und 5500 Kilometer weit fliegen können.
Offizieller Grund für den jetzigen Bruch ist die russische Rakete mit dem kryptischen Namen 9M729. Die Amerikaner behaupten, dass die Russen sie weiter als 500 Kilometer weit schiessen könnten.
Obama kritisierte bereits Russland
Der Vorwurf ist nicht neu. Bereits Donald Trumps Vorgänger Barack Obama (57) hatte ihn immer wieder erhoben. Über 30-mal hätten sich die Amis bei den Russen beschwert – doch passiert sei nichts. Entsprechend griff Aussenminister Pompeo zu besonders undiplomatischen Worten: Russland würde den Vertrag «schamlos» verletzen!
Dem widerspricht Moskau und wiederholte mehrfach, dass die Rakete eine Reichweite von nur 490 Kilometern habe und damit den INF-Vertrag einhalte. Das russische Militär versuchte erst kürzlich bei einer Führung, mehrere Journalisten und Militärattachés anderer Staaten davon zu überzeugen.
Kündigungsfrist läuft
Geholfen hat das nichts. Wohl auch deshalb, weil die Russen bei der Präsentation nur die Hülle zeigten, die nichts über die Reichweite aussagt. Der deutsche Raketen-Experte Markus Schiller kritisierte deshalb auch: «Die Russen täuschen Offenheit vor, mauern aber weiterhin.» Innerhalb Putins Partei kam gar die Vermutung auf, die Amerikaner hätten bloss etwas gegen die 9M729-Rakete, weil Russland von Kaliningrad aus auch US-Basisstationen in Polen attackieren könnte.
Die Amerikaner setzen Druck auf: Auch wenn der Austritt aus dem INF-Vertrag noch nicht endgültig beschlossene Sache sei, hielten sich die USA schon ab heute nicht mehr an den Vertrag. Dennoch lassen sie einen Türspalt für Entspannung offen. Trumps Regierung räumt den Russen noch 180 Tage ein, um die Raketen zu zerstören.
Finden die verfeindeten Seiten bis Anfang August keine Lösung, droht das Wettrüsten von vorne loszugehen. Davor warnt auch die Schweiz, wie das Eidgenössische Aussendepartement erklärt: «Ein erneutes Wettrüsten ist in niemandes Interesse.» Putin drohte bereits: «Russland wird entsprechend antworten.»
Streit in Europa
In vielen Teilen der Welt löste die Ankündigung aus Washington Sorge vor einem neuen atomaren Wettrüsten aus. Zwar sagte Trump auch, er wünsche sich, dass es zu einem neuen, besseren Vertrag komme. Allerdings hatte er in der Vergangenheit wiederholt erklärt, dafür müsse auch China zum Vertragspartner werden - und dazu lässt Peking keinerlei Bereitschaft erkennen.
Als Konsequenz aus der Aufkündigung zeichnet sich in Europa Streit ab. Polens Aussenminister Jacek Czaputowicz sagte dem «Spiegel»: «Es liegt in unserem europäischen Interesse, dass amerikanische Truppen und Atomraketen auf dem Kontinent stationiert sind.» Der deutsche Aussenminister Heiko Maas hielt dagegen: «Europa ist nicht mehr geteilt wie in Zeiten des Eisernen Vorhangs und deshalb sind alle Antworten aus dieser Zeit völlig ungeeignet, die Herausforderungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, zu beantworten.»
Die Nato hat nach den Worten von Generalsekretär Jens Stoltenberg keine Absicht, neue Atomwaffen bodengestützter Art in Europa zu stationieren. «Wir müssen aber klarmachen, dass wir eine glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung haben in einer Welt auch ohne INF-Vertrag», sagte Stoltenberg am Freitagabend im ZDF-«heute journal». Er kündigte eine «angemessene Reaktion» an, die «defensiver» Natur sein «und im Verhältnis stehen» werde.