Auf einen Blick
- Systematischer Unterschriftenbetrug bei Initiativen und Referenden aufgedeckt
- Firma Incop im Fokus, Anzeige wegen Wahlfälschung eingereicht
Grünen-Glättli will «gewerbsmässiges Unterschriftensammeln verbieten»
Eine Recherche des «Tages-Anzeiger» deckt auf: Bei zahlreichen Initiativen und Referenden sind Unterschriften in grossem Stil erfunden, gefälscht oder kopiert worden.
Viele Komitees erreichen die 100'000 Unterschriften, die sie für eine Volksinitiative brauchen, nur mithilfe von kommerziellen Sammlern. Gemäss der Recherche soll es dabei zu systematischem Betrug gekommen sein. Die Bundesanwaltschaft führt «mehrere Verfahren wegen des Verdachts der Wahlfälschung» gegen verschiedene natürliche Personen und gegen unbekannt.
Bei den gefälschten Unterschriften tauchen etwa Adressen auf, die es gar nicht gibt, das Geburtsdatum stimmt nicht oder ganze Bögen sind identisch mit alten Initiativen.
Die Ermittlungen drehen sich um Sammler und Sammlerinnen von mehreren Firmen, die kommerziell Unterschriften sammeln. Um welche Unternehmen es sich handelt, will die Bundesanwaltschaft aber nicht preisgeben.
Service-Citoyen reicht Anzeige gegen Incop ein
Sicher betroffen ist aber die Firma Incop. Noémie Roten, der Co-Präsidentin der Service-Citoyen-Initiative, sind eine Vielzahl gefälschter Unterschriften aufgefallen. Franck Tessemo, Chef von Incop, hatte ihr zuvor folgende Offerte gemacht: 10’000 Unterschriften «mit Validierung» innerhalb eines Monats zu 4.50 Franken pro Stück.
Service Citoyen stellte danach eine Sammlerin aus der Westschweiz zu Rede, die schliesslich zugab, mit anderen Sammlern ganze Unterschriftbögen einfach kopiert zu haben. Wegen Verdacht auf Wahlfälschung im grossen Stil reichte Service Citoyen am 14. Juni 2023 bei der Bundesanwaltschaft (BA) eine Strafanzeige gegen die Firma Incop, gegen Franck Tessemo persönlich und gegen unbekannt ein. Franck Tessemo nahm gegenüber dem «Tages-Anzeiger» keine Stellung.
Eine der Strafanzeigen zum Thema stammt von der Bundeskanzlei. Die Meldungen über Verdachtsfälle würden rund ein Dutzend eidgenössische Volksinitiativen betreffen, so Sprecher Urs Bruderer.
Betrugsfälle seit 2019
Viele der Schweizer Sammelorganisation sind in der welschen Schweiz ansässig, wie etwa im Kanton Waadt. Laut Vincent Duvoisin von der Waadtländer Kantonsverwaltung hätte man erste Betrugsmeldungen der Gemeinden Anfang 2019 erhalten. Die Fälle seien danach immer zahlreicher geworden. Der Kanton liefert auch eine Liste mit etwa einem Dutzend Volksbegehren, bei denen am meisten gefälschte Unterschriften festgestellt wurden.
Darunter sind etwa die Pro-AKW-Initiative «Blackout stoppen», die SVP-Neutralitätsinitiative, die Massentierhaltungs-Initiative, und die Initiative für ein Importverbot für tierquälerisch erzeugte Pelzprodukte.
Grösse des Problems bleibt unklar
Wie gross das Problem tatsächlich ist, weiss niemand genau. Laut Duvoisin sind allein im Kanton Waadt seit 2019 mehrere Tausend gefälschte Unterschriften entdeckt worden. Es könnten in der Realität aber weitaus mehr sein, da ein grosser Teil bei den Gemeinden durchrutschen würde.
«Wir müssen davon ausgehen, dass wir in den vergangenen Jahren über einige Volksbegehren abgestimmt haben, die nie hätten zustande kommen dürfen», sagt Marc Wilmes. Wilmes besitzt ein kleines Unternehmen, das nach dem Sammeln der Unterschriften die Bögen vorprüft, sortiert, und an die Gemeinden zur Beglaubigung schickt.
Die Bundeskanzlei teilt diese Einschätzung laut dem «Tages-Anzeiger» allerdings nicht. Sie schreibt: «Aus der Anzahl der Indizien lässt sich nicht schliessen, dass Referenden oder Initiativen mit weniger als den gesetzlich geforderten gültigen Unterschriften zur Abstimmung gelangt wären.»
Glättli will aktiv werden
Die ersten politischen Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. So sieht etwa der Grüne Nationalrat Balthasar Glättli (52) das Problem beim gewerbsmässige Unterschriftensammeln. Auf X kündet er darum an, seine Partei werde versuchen, dies so schnell wie möglich verbieten zu lassen.
Auch der Luzerner SP-Nationalrat David Roth (39) teilt auf dem sozialen Netzwerk mit: «Diese Firmen untergraben das Vertrauen in die Parteien. Stoppen wir sie.»
Alarmiert zeigt sich auch GLP-Präsident Jürg Grossen (55): «Der Bundesrat darf keine Abstimmung über eine Volksinitiative durchführen lassen, von der er annehmen muss, dass sie zu Unrecht zustande kam», sagt er gegenüber Blick.
Wenn die Regierung tatsächlich davon gewusst habe, dass gerade die kommende Blackout-Initiative eigentlich keine 100'000 gültigen Unterschriften hat, «dürfen wir nicht darüber abstimmen», fordert Grossen.