Unser Regierungssystem macht die Schweiz stabil – und etwas träge
Der Tanz um die Konkordanz

Stabilität steht im politischen System der Schweiz an erster Stelle. 19 Jahre musste die CVP nach ihrem Wahlerfolg auf den ersten Bundesratssitz warten, die Sozialdemokraten gar 26 Jahre. Auch die Grünen werden sich noch gedulden müssen.
Publiziert: 11.12.2019 um 06:45 Uhr
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Regula Rytz will die erste grüne Bundesrätin werden.
Foto: Keystone
Ladina Triaca und Sermîn Faki

Die Grünen wollen nicht mehr länger warten. Heute greifen sie an, um mit Regula Rytz (57) einen der Sitze im Bundesrat zu erobern. Dem Wählerwillen müsse jetzt Rechnung getragen werden, betont die Partei gebetsmühlenartig. Dabei übersieht sie, dass die Wahlen in der Schweiz vergleichsweise unwichtig sind.

Das zeigt der Blick zurück: 19 Jahre musste die CVP nach ihrem Wahlerfolg 1872 warten, bis die Freisinnigen bereit waren, einen der sieben Bundesratssitze abzutreten. Noch mehr Geduld brauchten die Sozialdemokraten. Sie mussten 26 Jahre lang kämpfen, bis ihnen nach dem Wahlerfolg 1917 ein Sitz zugesprochen wurde. Und auch die SVP erhielt ihren ersten Bundesrat erst zehn Jahre nach dem aussergewöhnlichen Sitzgewinn 1919.

Stabilität vor grossen Sprüngen

Einziger Ausreisser in der Vergangenheit war die Wahl von Christoph Blocher (79). Der Anspruch der SVP auf einen zweiten Sitz wurde 2003 – bereits vier Jahre nach dem grossen Wahlsieg – erfüllt. Auf diesen Fall verweisen auch die Grünen heute gerne.

Doch die Geschichte zeigt: Die Stabilität steht im politischen System der Schweiz an erster Stelle. Auf grosse politische Veränderungen, wie es sie beispielsweise in Grossbritannien oder in Deutschland nach dem Wahlen geben kann, wartet man hierzulande vergeblich.

Und damit ist die Schweiz nicht schlecht gefahren. Stabilität in der Regierung bedeutet auch Stabilität in der Politik, gegenüber den Bürgern und Nachbarstaaten. Reformschritte sind zwar oft klein – kein Wunder, wenn sich die Parteien stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen müssen.

Doch wenn ein Kompromiss gefunden und vom Volk bestätigt ist, hat er Bestand. Das Hin und Her, das sich derzeit in Grossbritannien um den Brexit abspielt: in der Schweiz undenkbar.

Der Preis der Konkordanz

Doch die Konkordanz hat auch ihren Preis. Auf kurzfristige Wählerverschiebungen wird wenig Rücksicht genommen. Und wie die Beispiele von SP, CVP und SVP zeigen, brauchen neue Kräfte einen langen Atem, um an die Schalthebel der Macht zu kommen – selbst wenn sie im Parlament einflussreich sind.

Die Konkordanz – seit 1959 versinnbildlicht in der «Zauberformel» zur Bundesratszusammensetzung – ist eben auch ein träges System. Dabei geht es im Schweizer System darum, alle wichtigen Kräfte in die Regierung einzubinden. Letztlich auch das mit dem Ziel, stabil und in einem guten Sinn berechenbar zu sein.

Bundesratswahlen ein Jahr später

Und dennoch werden im Parlament nach den Wahlen regelmässig Pläne geschmiedet, die Zusammensetzung des Bundesrats zu ändern, anzupassen an den Wählerwillen.

Wie liessen sich solche «parlamentarischen Gelüste» zurückbinden? Einen interessanten Vorschlag lieferte der parteilose Ständerat Thomas Minder (58). Er schlug einst vor, die Bundesratswahlen zeitlich von den Parlamentswahlen zu entkoppeln. Konkret sollte die Landesregierung erst ein Jahr – und nicht wie heute ein paar Wochen – nach den eidgenössischen Wahlen bestellt werden. Das würde die überhitzten Gemüter wieder beruhigen. Doch Minder zog seinen Vorschlag noch vor der Beratung zurück – Stabilität geht eben vor.

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