Die Zahl der bestätigten Corona-Fälle in der Schweiz stieg bis Sonntagmittag auf 7014 an. 60 Menschen sind bis anhin verstorben. Die Pandemie hält die Schweiz in Schach. Am stärksten betroffen sind die Kantone Tessin, Basel-Stadt und Waadt.
Der Südkanton hat am Freitag reagiert: Die Kantonsregierung hat den Shutdown verfügt. Unternehmen, die nicht nachweisen können, dass sie die Hygienemassnahmen des Bundes konsequent einhalten, müssen schliessen – zunächst bis Ende Woche.
Unia-Präsidentin Vania Alleva (51) fordert nun, dass die ganze Schweiz nachzieht. BLICK erreicht sie am Sonntagabend per Telefon.
BLICK: Frau Alleva, im Tessin werden Gewerbe und Industrie am Montag komplett heruntergefahren. Machen Sie sich nicht Sorgen um die Arbeitsplätze dort?
Vania Alleva: Im Tessin hat sich in den letzten Wochen gezeigt, dass die vom Bundesrat verhängten Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften nicht eingehalten werden können. Daher ist die Schliessung vieler Betriebe wegen des Coronavirus die richtige Schlussfolgerung, die auch von den Arbeitgebern mitgetragen wird.
Der Schritt war nicht zu drastisch?
Er ist konsequent. Wir haben einen Vollzugsnotstand bei den Corona-Massnahmen. Sie werden in der Arbeitswelt einfach ungenügend umgesetzt. Die meisten Kantone kontrollieren nicht einmal mehr. Jeder Tag, den wir jetzt zuwarten, macht die Situation nur schlimmer. Da gibt es nur eins: Wir müssen den Tessiner Shutdown auf die gesamte Schweiz ausdehnen. Wer nicht beweisen kann, dass er die Vorschriften des Bundes konsequent einhält, muss vorübergehend schliessen.
Das bedeutet das temporäre Aus für viele Branchen – oder gar mehr.
Wir müssen uns jetzt primär um jene Tätigkeiten sorgen, die gesellschaftlich unverzichtbar sind – Gesundheitswesen, Versorgung, Infrastruktur. Betriebe in diesen Branchen müssen weiterarbeiten können. Und zwar so, dass die Angestellten ausnahmslos geschützt sind. Wir dürfen nicht riskieren, dass das Pflegepersonal oder die Menschen, die uns mit Lebensmitteln versorgen, ausfallen. Und ja, andere Branchen müssen die Arbeit vorübergehend einstellen, damit sie die Richtlinien des Bundes einhalten und weiterarbeiten können.
Wollen Sie wirklich drei Viertel der Wirtschaft lahmlegen?
Nein, das wollen wir nicht. Aber wir müssen jetzt den Gesundheitsschutz sicherstellen und dieses Virus eindämmen. Wenn sich die Pandemie weiter so ausbreitet, wird das die Wirtschaft viel härter treffen. New York hat den Shutdown der Wirtschaft am Freitag beschlossen, Italien hat nachgezogen, andere werden folgen. Ich bin überzeugt: Schnell zu tun, was sich sowieso nicht mehr verhindern lässt, ist auch für die Wirtschaft das kleinere Übel. Je eher wir die Pandemie unter Kontrolle bekommen, desto schneller kommt auch die Wirtschaft wieder auf Trab. Wir müssen jetzt herunterfahren.
Mit einer so radikalen Forderung erweisen Sie Ihren Mitgliedern einen Bärendienst! Sie gefährden Zehntausende Arbeitsplätze.
Im Gegenteil: Wir wollen möglichst viele Arbeitsplätze sichern. Das machen wir, indem wir den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sicherstellen. Ohne dies dauert es viel länger, bis wir aus der Krise rauskommen. Zudem befinden sich Hunderttausende in einer akuten Notlage. Unsere Mitglieder überschwemmen uns mit Anfragen. Weil sie Angst haben. Angst um ihre Existenz und Angst um ihre Gesundheit. Ein Banker kann die Hygieneregeln des Bundesrats einhalten und seinen Job im Homeoffice machen. Arbeitnehmende in der Industrie, im Gewerbe, auf dem Bau und in vielen Dienstleistungsberufen können das nicht. Haben sie nicht ebenso Anrecht auf Schutz?
Wer soll so einen Shutdown bezahlen?
Der Bund hat bereits Hilfe zur Verfügung gestellt, aber das wird nicht reichen. Es wird mehr Geld brauchen, um Lohneinbussen zu kompensieren, und nach der Krise ein grosses Konjunkturprogramm, damit die Wirtschaft wieder durchstarten kann.
Der Bund muss jetzt schon Schulden aufnehmen für das 42-Milliarden-Hilfspaket. Ihre Forderung würde viel mehr kosten. Woher soll das Geld kommen?
Die Schweiz kann das bezahlen. Entweder sind die Corona-Massnahmen des Bundesrats ernst gemeint oder nicht. Es kann nicht sein, dass für die Arbeitswelt andere Standards gelten als für das Privatleben. Für die Unia ist klar: Der Schutz der Bevölkerung hat oberste Priorität. Und ja, das wird Geld kosten.
Haben Sie die Arbeitgeber auf Ihrer Seite?
Arbeitgeber im Tessin, aber auch in den Kantonen Waadt und Genf, sehen die Notwendigkeit des Shutdowns ebenfalls ein. Andere werden folgen.
Als Präsidentin der Unia ist Vania Alleva (51) die mächtigste Gewerkschafterin im Land. Mit rund 200'000 Mitgliedern ist die Unia die grösste Gewerkschaft der Schweiz. Alleva wuchs in Zürich als Tochter eines Lastwagenfahrers und einer Schneiderin auf. Seit 2015 steht die studierte Kunsthistorikerin der Unia als alleinige Präsidentin vor – als erste Frau. Alleva ist schweizerisch-italienische Doppelbürgerin und lebt mit ihrem Mann in Bern.
Als Präsidentin der Unia ist Vania Alleva (51) die mächtigste Gewerkschafterin im Land. Mit rund 200'000 Mitgliedern ist die Unia die grösste Gewerkschaft der Schweiz. Alleva wuchs in Zürich als Tochter eines Lastwagenfahrers und einer Schneiderin auf. Seit 2015 steht die studierte Kunsthistorikerin der Unia als alleinige Präsidentin vor – als erste Frau. Alleva ist schweizerisch-italienische Doppelbürgerin und lebt mit ihrem Mann in Bern.