1. Der Bundesrat braucht eine neue Strategie
Die Hoffnung, sich mit der EU auf einen Kompromiss bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Intiative (MEI) zu einigen, hat sich zerschlagen. Am klarsten zeigt sich das am Treffen von Jean-Claude Juncker mit Bundespräsident Johann Schneider-Ammann in Ulan Bator am letzten Samstag. Zwar bezeichnet ihn der EU-Kommissionspräsident auf Twitter als Freund. Trotzdem gibt die EU keinen Zentimeter nach. Dass wir keinen Schritt weiter sind, hat weniger mit der Verhandlungsführung der Schweiz zu tun, als vielmehr mit der Verteilung der Kräfte. Die Schweiz will die Verträge anpassen – und nicht die EU. Es ist der Bundesrat, der den Druck einer Deadline hat – und nicht Brüssel. Daran wird sich kaum etwas ändern, schon gar nicht nach dem Brexit-Entscheid im Vereinigten Königreich. Seit der Abstimmung in Grossbritannien kommunizierten ausgerechnet die beiden FDP-Minister – Schneider-Ammann und Ausseinminister Didier Burkhalter – nicht deckungsgleich. Für Kenner keine Überraschung: Innerhalb des Bundesrats sei man sich über die Strategie in Sachen MEI-Umsetzung nie wirklich einig geworden. Ob das stimmt oder nicht: Fakt bleibt, die Schweizer Regierung benötigt eine neue Strategie. Oder überhaupt eine.
2. Die Zeit für Horizont 2020 drängt
Dass der Bundesrat unter Zeitdruck steht, ist selbstverschuldet. Zu verantworten hat das Justizministerin Simonetta Sommaruga. Es war ihr Entscheid, die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien nach dem 9. Februar zu sistieren. Spitzenjuristen schüttelten ob diesem Schritt nur den Kopf. Und das Parlament hat alles noch schlimmer gemacht, indem es dem Bundesrat untersagte, das Kroatien-Protokoll zu unterschrieben, ohne eine MEI-Einigung mit der EU gefunden zu haben. Genau das rächt sich nun im Forschungs-Dossier: Die Schweiz hat nur noch 142 Tage Zeit, die Kroatien-Verträge zu ratifizieren. Doch ohne einen Verhandlungserfolg mit der EU ist das unmöglich. Die Folge? Ohne Kroatien-Protokoll gibt es keinen Zugang mehr für Schweizer Forscher und Hochschulen zum EU-Forschungsprogramm «Horizon 2020». Und das wäre für den Schweizer Forschungsplatz ein grosser Rückschlag, wie Rektoren und Wirtschaftsführer mehrfach klar gemacht haben.
3. Die FDP muss liefern
Die Freisinnigen haben immer wieder betont, sie wollten die Bilateralen beibehalten und gleichzeitig den Volksentscheid akzeptieren. Im Gegensatz zu den anderen Parteien vermied es die FDP demonstrativ, auf die schlechten Chancen der Schweiz auf einen Kompromiss mit der EU hinzuweisen. Die FDP hat letztlich mitgeholfen, dass der Eindruck entstanden ist, die MEI lasse sich ohne weiteres und unter Beibehaltung des freien Personenverkehrs umsetzen. Dazu ist die Partei in diesem Jahr fast am stärksten in die Verhandlungsführung integriert: Zwar liegt die Federführung bei Sommaruga, aber inzwischen befassen sich beide FDP-Bundesräte auch damit. Und beide fallen damit auf, dass sie nicht müde werden, zu betonen, wie gut die Chancen auf eine Einigung mit der EU seien. Darum muss die FDP wohl bald liefern und einen Kompromiss erzwingen. Doch wohin sie in dieser Sache hinsteuern will, ist ungewiss. Will sie sich für eine Teil-Umsetzung der MEI entscheiden, wie es FDP-Nationalrat Kurt Fluri am Wochenende propagiert hatte? Will sie auf eine neue Volksabstimmung hinarbeiten? Oder will sie eine einseitige Umsetzung mit Kontingenten und Inländervorrang? Der Entscheid der Partei ist nicht nur taktisch, er hat wohl sogar strategische Folgen. Denn letztlich muss sich die FDP entscheiden, ob sie sich mit der SVP oder mit Mitte-Links in der Europafrage zusammentut. Ohne die FDP ist keine Mehrheit bei der MEI-Umsetzung möglich. Möglicherweise schaffen es die Freisinnigen sogar das auf den ersten Blick Unmögliche: Eine Koalition aller Bürgerlichen, also eine Umsetzung der MEI ohne SP und Grüne.
4. Die SVP muss einlenken
Der SVP wirft inzwischen selbst die neue FDP-Präsidentin Petra Gössi vor, sie «trötzele». Das trifft in Sachen MEI-Umsetzung voll ins Schwarze. Nimmt man die Summe der Signale seit dem Volksentscheid zum Massstab, so will die SVP wohl gar keine Umsetzung, sondern hofft auf den grossen Krach. Dennoch sollte sie einlenken. Denn letztlich kann sich die SVP nicht darauf berufen, dass der Volkswillen eins zu eins umgesetzt werden muss. Immerhin hat die wählerstärkste Partei bei der Umsetzung der Zweiwohnungsinitiative wesentlich mitgeholfen, dass ein Kompromiss zustande kam. Dieser ist zwar meilenweit entfernt vom Verfassungsauftrag, fand aber trotzdem die Zustimmung der Initianten. Genau zu einem solchen Kompromiss sollte die Partei sich jetzt auch durchringen. Doch dazu müsste sie die Kakafonie beenden, in welche Richtung eine mögliche Umsetzung gehen könnte. Eine klare Botschaft, was die Partei will, gibt es noch immer nicht. Bisheriger Höhepunkt: Der Sonntag, als Vater und Tochter Blocher für und gegen eine Umsetzung mit Kontingenten warben.
5. Das Parlament muss Farbe bekennen
Was jetzt auch schon klar ist: Die Vorlage, die der Bundesrat ins Parlament bringt, wird von Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Parteien mehrheitlich abgelehnt. Ohne Kompromiss mit der EU ist der Vorschlag kaum das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Doch kann das Parlament auch selber einen Kompromiss vorspuren. Schliesslich ist seine Zusammensetzung jünger als der Volksentscheid. Das heisst dann: Die Wählerinnen und Wähler haben sich im Herbst 2015 ihre Vertretung ausgesucht im vollen Wissen darum, wer die MEI wie umsetzen will. Damit hat es das Parlament voll in der Hand: Es kann einen Weg aufzeigen, wohin die Reise geht. Oder anders gesagt: Es kann entscheiden, ob und wie man die MEI vorläufig umsetzen soll.