Es ist gemein, wenn ein Müsli sterben muss, wirft die Tochter dem Vater vor. Der Vater ist der Molekularbiologe Doron Shmerling. Er züchtet seit dreissig Jahren Mäuse, die im Namen der Wissenschaft sterben müssen. Shmerling antwortete seiner Tochter: «Die Maus stirbt, dafür kann ein Mensch leben. Ist das nicht in Ordnung?» – «Nein», erwiderte sie. «Die Maus hat auch ein Mami.»
Das sei nicht ganz richtig, sagt der 60-Jährige. Er holt eines der Plastikgehege aus seinem Stall. Die Tiere leben aufeinandergestapelt in Boxen, die aussehen wie die Abräumstationen in Kantinen. Über einen Lautsprecher läuft Radio Swiss Jazz. Shmerling packt eine der schwarzen Mäuse, eine Black Six, am Schwanz und zieht sie heraus. Die anderen verstecken sich im Häuschen unter der Streu. «Sind ein bisschen dumm», meint er. Ratten hätten mehr zu bieten.
Die Familie wird getrennt
«Mäuse haben keine Mutterbeziehung im menschlichen Sinn.» Wenn die Jungen nach drei Wochen abgestillt sind, gebe es für sie kein Mami mehr. Die Mutter- und die Jungtiere erkennen sich nicht einmal mehr, haben Sex miteinander und fressen sich manchmal sogar auf. Es ist darum verboten, Mäuse aus der gleichen Familie zusammen in den Gehegen zu halten. Die Jungen müssen abgesetzt werden. Es sei eben nicht wie in unserem romantischen Ideal, sagt Shmerling. «Wir können unsere Moralvorstellungen nicht auf die Mäuse übertragen.»
Seiner Tochter erzählte er das damals nicht. Stattdessen fragte er sie, was wäre, wenn eine Maus sterben müsste, damit tausend Menschen leben können. Da sei sie nicht mehr so sicher gewesen. «Ich habe daraus geschlossen: Ethik ist eine quantitative Angelegenheit.»
Weltweit werden Labortiere mit Kohlendioxid (CO2) vergast. Mit dieser Methode können sie gruppenweise getötet werden. Die Tiere werden weder getrennt noch fixiert, was zusätzlichen Stress bedeuten würde. CO2 ist ausserdem kostengünstig und einfach zu handhaben. Aus Sicht des Tierschutzes ist diese Tötungsmethode aber höchst umstritten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen die Kritik. Das CO2 reizt die Atemwege der Tiere und löst sehr rasch Schmerzen, Atemnot und Angst aus. Die Tiere führen einen Todeskampf. Sie sind erst nach mehreren Sekunden oder sogar Minuten bewusstlos. Darum wird nach tiergerechteren Tötungsmethoden geforscht. Im letzten Mai erteilte der Bund der Universität Zürich den Forschungsauftrag «Das Leben von Tieren humaner beenden». Erste Resultate zeigen, dass Mäuse und Ratten beim Einatmen von Stickstoff weniger Stress erleiden.
Weltweit werden Labortiere mit Kohlendioxid (CO2) vergast. Mit dieser Methode können sie gruppenweise getötet werden. Die Tiere werden weder getrennt noch fixiert, was zusätzlichen Stress bedeuten würde. CO2 ist ausserdem kostengünstig und einfach zu handhaben. Aus Sicht des Tierschutzes ist diese Tötungsmethode aber höchst umstritten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen die Kritik. Das CO2 reizt die Atemwege der Tiere und löst sehr rasch Schmerzen, Atemnot und Angst aus. Die Tiere führen einen Todeskampf. Sie sind erst nach mehreren Sekunden oder sogar Minuten bewusstlos. Darum wird nach tiergerechteren Tötungsmethoden geforscht. Im letzten Mai erteilte der Bund der Universität Zürich den Forschungsauftrag «Das Leben von Tieren humaner beenden». Erste Resultate zeigen, dass Mäuse und Ratten beim Einatmen von Stickstoff weniger Stress erleiden.
Verändertes Erbgut
Doron Shmerling ist ein Mann, der das grosse Ganze im Blick hat. Er rechnet das Leben von ein paar Mäusen gegen die Erforschung von unheilbaren Krankheiten auf. Seit zwanzig Jahren ist er der einzige kommerzielle Anbieter, der in der Schweiz genetisch veränderte Mäuse für die Forschung herstellt und verkauft. Transgene Mauslinien, wie sie im Fachjargon heissen. Den Namen seiner Firma möchte er lieber nicht im Beobachter lesen. Er wolle sich nicht zur Zielscheibe von Tierschützern machen.
Gentech-Mäuse verbraucht der Wissenschaftsbetrieb zu Hunderttausenden jedes Jahr. Bei fast jedem zweiten Tierversuch entspricht das Erbgut der Maus nicht mehr dem Wildtyp.
Shmerlings Kunden sind Universitäten. Für ihre Forschung brauchen sie Mäuse, bei denen menschliche Gene ins Erbgut verpflanzt oder Gene einoder ausgeschaltet wurden. Wieder andere benötigen Mäuse mit spezifischen Krankheiten wie etwa Alzheimer. Für Covid-19 sind Gentech-Mäuse gefragt, denen der sogenannte ACE2-Rezeptor eingebaut wurde, damit sich die Maus überhaupt infiziert. Beim Wildtyp kann das Virus nirgends andocken.
Bei Shmerling kommen jedes Jahr gut 5000 Mäuse auf die Welt. Aber nur jede zehnte zeigt nach dem Eingriff in ihr Erbgut die gewünschten genetischen Eigenschaften. Die magere Quote hängt mit den Gesetzen der Mendelschen Vererbungslehre zusammen. Nicht alle Jungen sind reinerbig. Es braucht jeweils mehrere Würfe. Und manchmal klappen die komplexen Eingriffe auch nicht auf Anhieb.
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
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Plötzlich sinds zu viele
Doron Shmerling verkauft nur Prototypen. Die Universitäten züchten diese Mäuse in ihren Tierställen weiter. Dabei entsteht wiederum «Überschuss». Für gewisse Forschungsfragen interessieren etwa nur die Weibchen. Manchmal würden sich die Forschenden auch verrechnen und zu viele Tiere züchten, sagt Shmerling. Wenn kurzfristig ein Doktorand abspringt, werden plötzlich weniger Experimente gemacht. Wegen Corona waren die Tierställe im Ausnahmezustand. Während des Shutdowns im Frühling 2020 musste allein die Universität Zürich 14 500 Mäuse und Ratten einschläfern, weil Forschungsprojekte sistiert wurden.
2020 wurden in der Schweiz fast 1,3 Millionen Labortiere geboren oder importiert. Das geht aus der Statistik der Versuchstierhaltung des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hervor. Mehr als die Hälfte waren gentechnisch veränderte Mäuse – gut 750000. Nur jede fünfte war aber von konkretem Nutzen für die Wissenschaft.
In der offiziellen Tierversuchsstatistik und im Abstimmungsbüchlein für die Initiative für ein Tierversuchsverbot sucht man vergebens nach Informationen zu Tieren, die nie in einem Versuch eingesetzt wurden. Kommuniziert wird nur die Anzahl der durchgeführten Tierversuche. Sie stagniert seit zwanzig Jahren bei rund einer halben Million. «Es besteht keine gesetzliche Grundlage für die Erhebung konkreter Daten von diesen Tieren, und es besteht auch keine gesetzliche Pflicht, Statistiken aus Versuchstierhaltungen zu publizieren», schreibt das BLV auf Anfrage.
Magere Ausbeute
«Ich finde das schockierend», sagt die grüne Ständerätin Maya Graf. Seit langem kritisiert sie Tierversuche und möchte vom Bundesrat wissen, was unternommen wird, um die Anzahl der Überschusstiere zu reduzieren. Auch weil die Züchtungen mit Steuergeldern finanziert werden. In der Frühlingssession will sie einen Vorstoss dazu einreichen.
«Die Herstellung genetisch veränderter Mäuse ist teuer», sagt Julika Fitzi vom Schweizer Tierschutz (STS). Und ethisch nicht vertretbar, weil es viele Überschusstiere gebe und die wissenschaftliche Ausbeute mager ausfalle. «Die Mäuse leiden unter all diesen Eingriffen in ihr Erbgut. Es gibt kein gentechnisch verändertes Tier, das keine Belastungen erlebt hat, nur schon haltungsbedingt – auch ohne Einsatz im Tierversuch.»
Doron Shmerling ist es unangenehm, wenn er die toten Mäuse zeigen muss. Sie liegen tiefgefroren bei minus 20 Grad in einer weissen Kühltruhe. Hunderte schwarze, weisse und graue Mäuse kreuz und quer in blauen Plastikeimern. Fünf Mäuse liegen wie weggeworfen auf dem Boden. Einmal im Jahr packt Shmerling die Kadaver in sein Auto und bringt sie zu der Abgabestelle für infektiösen Abfall.
Das Wort «Überschusstiere» mag er nicht. Ohne diese Mäuse gäbe es keine Versuchstiere, sagt er und fragt: «Wäre ihr Leben mehr wert gewesen, wenn sie in einem Experiment eingesetzt worden wären?» Die blosse Anzahl geborener Tiere sage ihm wenig. Relevant sei, ob die Tiere leiden mussten oder nicht.
Kein gutes Business mehr
Seinen Mäusen werden mit einer dünnen Nadel Hormone in den Bauch gespritzt. Weibchen werden unter Narkose aufgeschnitten, um ihnen Embryonen aus künstlicher Befruchtung einzusetzen. Der erste Eingriff sei früher als leicht, der zweite als schwer eingestuft worden, sagt Shmerling. Seit einigen Jahren muss er den Schweregrad nicht mehr deklarieren. Er hat eine pauschale Bewilligung für die Zucht transgener Mäuse. Die Mäuse würden bei ihm nur minimal belastet, sagt er. «Denen geht es gut. Die Spritze spüren sie kaum. Und das Einpflanzen der Embryonen geschieht unter Narkose.»
Alle Forschungsprojekte seiner Kunden seien bewilligt und damit auch ethisch begründet. Die Güterabwägung mache die Tierversuchskommission. Das unabhängige Gremium aus Fachpersonen entscheidet über die Bewilligung für belastete Tierversuche.
Eine Maus, die draussen lebe, werde irgendwann gefressen, verhungere oder erfriere, sagt Shmerling. «Hier sind sie zwar nicht frei. Dafür haben sie ständig Futter, Sex, zu trinken, und das Klima ist angenehm.»
Wie stark die rund 750000 Gentech-Mäuse leiden, ist unklar. «Eine detaillierte Zuordnung zum Schweregrad ist nicht möglich», schreibt das zuständige Bundesamt. Es sei nur bekannt, dass knapp 116 000 Tiere, also rund 15 Prozent, zu einer «belasteten Linie» gehörten. Welche Belastungen die Mäuse konkret erfahren, lasse sich aus den Daten aber nicht schliessen, schreibt das Amt weiter.
Shmerling wird nicht mehr lange Gentech-Mäuse züchten. Die Arbeit sei zwar spannend und ethisch wie medizinisch relevant – doch die Rechnung gehe nicht mehr auf. Gentech-Mäuse sind heute ein Standardprodukt, das drückt die Preise. Vor zehn Jahren bekam er für eine Gentech-Maus 70000 bis 80000 Franken. Heute sind es für die gleiche Maus keine 25 000 Franken mehr. «Das bezahlt kaum noch meine Auslagen», sagt er. Seine Arbeit werde künftig in China gemacht.