Am 17. Dezember 2011 ist Kim Jong Il im Alter von 70 Jahren verstorben. Nach seinem Tod kam Kim Jong Un (37) an die Macht, sein jüngster Sohn. Der Zürcher Thomas Fisler (68) leitete von 2013 bis 2017 das Büro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Pjöngjang. Er erhielt dadurch seltene Einblicke in das abgeschottete Land und ist bis heute ein aufmerksamer Beobachter geblieben.
Herr Fisler, seit zehn Jahren ist Kim Jong Un an der Macht. Hat sich das Leben der Nordkoreaner in dieser Zeit verbessert?
Thomas Fisler: Lange ging es tatsächlich etwas aufwärts. Kim Jong Un liess mehr Markt zu und erhöhte den Warenaustausch mit dem Ausland, vor allem mit China. Dadurch vergrösserte sich die Mittelschicht und eine kleine Elite in Pjöngjang konnte sich teilweise sogar einen gewissen Luxus leisten.
Wie kommt Nordkorea an Geld?
Nordkorea exportiert in erster Linie Fischereiprodukte, Kohle und Holz. Zudem wird Rohstoffe wie Eisenerz oder Zink abgebaut. Weiter importiert das Land Halbfabrikate aus China, verarbeitet sie und exportiert sie wieder, insbesondere Textilien. Das brachte dem Regime bis vor kurzem fünf bis sechs Milliarden Dollar pro Jahr. Das ist nicht viel, aber immerhin. Durch die Pandemie hat sich aber alles verändert.
Was ist passiert?
Seit 2020 schottet sich das Land stärker ab denn je. Praktisch der gesamte Handel wurde unterbunden, nichts und niemand kommt mehr rein und raus. Verheerende Taifune sorgten zudem für schlechte Ernten. Nordkorea geht es deshalb so schlecht wie seit der grossen Hungersnot in den 90er-Jahren nicht mehr.
Damals verhungerten Schätzungen zufolge zwei bis drei Millionen Menschen. Könnte sich eine solche Katastrophe wiederholen?
Das hoffe ich nicht. Die Vereinten Nationen gehen aber davon aus, dass mittlerweile grosse Teile der Bevölkerung unter Mangelernährung leiden, insbesondere Kinder. Verlässliche Einschätzungen sind jedoch schwierig, weil Hilfsorganisationen und ausländische Beobachter das Land verlassen haben.
Wieso reagiert Kim so radikal auf Covid-19?
Das Regime befürchtet vermutlich, dass das nordkoreanische Gesundheitssystem der Pandemie nicht gewachsen wäre. Schon bei früheren Infektionskrankheiten wie Sars oder Ebola hat sich Nordkorea komplett abgeriegelt. Damals war der Spuk nach einigen Monaten wieder vorbei. Jetzt dauert die Abschottung jedoch schon bald zwei Jahre – und ein Ende ist nicht absehbar.
Wäre der Schaden durch Covid-19 nicht geringer als durch Selbstisolation und Hunger?
Mag sein. Vielleicht wird das Land irgendwann gezwungen sein, die Blockade zu lösen. Aus politischen Gründen dürfte das Regime aber nicht ganz unglücklich sein über die aktuelle Situation: Es kommen wieder weniger Informationen ins Land und Schwarzmärkte für Schmuggelware wurden ausgetrocknet. Diese Entwicklungen waren der Preis für die leichte Öffnung der vergangenen Jahre. Dass dies nun nicht mehr möglich ist, trifft in erster Linie die kleinen Leute auf dem Land. Geht es so weiter, dürften aber auch die Eliten in der Hauptstadt unzufrieden werden, die sich an einen relativen Wohlstand gewöhnt haben. Die Pandemie könnte dem Kim-Regime gefährlich werden.
Kim Jong Un war erst 27 Jahre alt, als er an die Macht kam. Viele gingen davon aus, dass er sich nicht wird halten können. Wie hat er es trotzdem geschafft?
Er hat sich in den ersten Jahren seiner Herrschaft voll auf den Machterhalt fokussiert und potenzielle Feinde gnadenlos ausgelöscht. Sogar seinen eigenen Onkel liess er hinrichten. In seinem Auftreten eiferte er derweil seinem Grossvater nach, Staatsgründer Kim Il Sung, dem er verblüffend ähnlich sieht. Zudem kann Kim Jong Un gut auf die Leute zugehen und wirkt sehr jovial, wenn er etwa eine Fabrik eröffnet. Mittlerweile gilt die absolute Loyalität im Land ihm – auch innerhalb der Parteispitze.
Kim hat sich zum Ziel gesetzt, Nordkorea in die Moderne zu führen. Ist ihm das gelungen?
In gewissen Bereichen bestimmt. Nordkorea hat zum Beispiel eine gefürchtete Cyberarmee aufgebaut. Auch Fernseher, Computer und Smartphones findet man mittlerweile überall. In Pjöngjang sowieso, aber auch auf dem Land. Man schätzt, dass fünf der 25 Millionen Nordkoreaner ein Handy haben.
Nordkoreaner haben keinen Zugang zum Internet. Was nützen da Computer und Smartphones?
Es gibt ein Intranet innerhalb der Landesgrenzen. Dieses bietet zum Beispiel Computerspiele oder staatliche Nachrichtenseiten.
In China oder im Iran finden viele Menschen Wege, um die Internetsperren des Regimes zu umgehen. Ist das in Nordkorea ebenso?
Im grossen Stil mit Sicherheit nicht. Das ist höchstens in Einzelfällen denkbar, zum Beispiel, wenn jemand beruflich engen Kontakt hat mit Ausländern. Oder natürlich für die oberste Spitze der Partei. An Universitäten gibt es teilweise ebenfalls Internetzugang, um forschen zu können. Allerdings müssen die Studenten dann zu dritt am Computer sitzen, um sich gegenseitig zu überwachen.
Aussenpolitisch machte Kim lange nur durch Atomwaffen- und Raketentests von sich reden. 2018 und 2019 kam es dann plötzlich zu drei Treffen mit Ex-US-Präsident Donald Trump. Auch Südkorea, China und Russland erwiesen Kim die Ehre. Welche Bedeutung hatten diese Treffen für ihn?
Für Kim waren diese Treffen ein riesiges Geschenk. Er konnte sich als modernen Staatsmann präsentieren, der auf Augenhöhe mit den Grossmächten verhandelt. Für diese Imagepolitur musste er keinerlei Konzessionen machen. Das Atomwaffenprogramm wird ohne Abstriche fortgeführt, und es gab seither auch wieder mehrere Raketentests. Es war unglaublich dumm von Trump, Kim ohne Vorbedingungen zu treffen. Diplomatie funktioniert nicht von oben herab. Es braucht zuerst ein Fundament aus diplomatischer Fleissarbeit.
Wird Nordkorea das Atomwaffenprogramm jemals einstellen?
Das ist heute kaum vorstellbar. Das Kim-Regime ist der Überzeugung, dass ihr Überleben nur durch den Besitz von Atomwaffen sichergestellt wird. Deshalb wird das Land wohl keine Kompromisse machen. Das oberste Ziel einer Diktatur ist der Erhalt der Diktatur.
In den vier Jahren in Nordkorea, was war Ihr verstörendstes Erlebnis?
Sehr befremdlich war, dass die Loyalität der Mitarbeiter stets dem Staat galt und nie mir als Vorgesetztem oder Arbeitgeber. Wenn ich eine Frage gestellt habe, bekam ich oft nichtssagende oder offensichtlich falsche Antworten. Das Problem ist, dass Fragen, die wir für völlig unverfänglich halten, von Nordkoreanern als potenziell heikel eingestuft werden.
Was ist Ihnen in positiver Erinnerung geblieben?
Am meisten beeindruckt hat mich die Genügsamkeit der Menschen, insbesondere der hart arbeitenden Landbevölkerung, die sich meist selbst versorgt. Auch diese Menschen trinken nach einem harten Arbeitstag mal eine Flasche Schnaps und haben es lustig. Trotz Diktatur, Abschottung und bescheidenen Lebensverhältnissen darf man nicht vergessen: Nicht alle Nordkoreaner sind unglücklich.