Mit Bundesrat Ignazio Cassis (58) ist ein neuer Wind im Aussendepartement (EDA) eingezogen. Gleich nach Amtsantritt wollte er die «Reset»-Taste für die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU drücken. Kurz danach kritisierte er das Uno-Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser als Teil des Problems und nicht der Lösung im Nahostkonflikt.
Mehr Wirtschaft – im Interesse der Schweiz
Doch Cassis lässt es nicht bei Kritik bewenden – und wagt den Neuanfang nicht nur im schwierigen EU-Dossier. Der gestern veröffentlichte Bericht Avis2028 zeigt, wie er die gesamte Aussenpolitik auf neue Füsse stellen will.
Zwar hat Cassis den Bericht nicht selbst verfasst, sondern dies an eine neunköpfige Expertenrunde unter EDA-Leitung delegiert. Doch diese festigt den Kurs, den Cassis bisher vorsichtig angetönt hat: Das Pflegen der humanitären Tradition ist für ihn nicht mehr genug. Sein Schwerpunkt ist eine bessere Vertretung Schweizer Interessen.
Experten schlagen sechs Schwerpunkte vor
Diesen Kurs setzte die Arbeitsgruppe in ihrer Vision für die Aussenpolitik im Jahr 2028 um. Ausgehend von einer Welt, in der Grossmächte wieder dominanter werden, der Klimawandel auf eine Lösung wartet, wo Digitalisierung und Globalisierung voranschreiten und gleichzeitig nationalistische Töne vorherrschen, haben die Experten sechs Schwerpunkte definiert:
- Interessen und Werte: Die Schweiz soll ihre Aussenpolitik stärker auf ihre Interessen ausrichten. Im Fokus stehen gute Beziehungen zu China, Russland und den USA. Zudem soll sie sich stärker in Asien und Afrika engagieren, die als Markt interessant sind für die Wirtschaft. In Sicherheitsfragen soll sie internationale Gremien stärken.
- Aussenpolitik erklären: Die Visionäre regen an, nicht nur Kantone und Parlament, sondern auch Bevölkerung, Wissenschaft und Wirtschaft mehr einzubeziehen. Das soll die Aussenpolitik besser abstützen.
- Im Dienst von Wirtschaft und Bürger: Schweizer sollen auf der ganzen Welt auf die Schweiz zählen können. Die Digitalisierung wird vieles – etwa die Erstellung von Notpässen – vereinfachen. Zudem sollte sich die Aussenpolitik mehr in den Dienst der Wirtschaft stellen, denn auf deren Erfolg basiert unser Wohlstand.
- Mehr Fokus in der Entwicklungshilfe: Die Schweizer Entwicklungshilfe soll sich mehr fokussieren. Ihr Hauptzweck soll sein, den Migrationsdruck zu vermindern. Zudem sollte die Schweiz ihre Rolle als Brückenbauerin in Konflikten pflegen.
- Technologie als Chance: Die Schweiz soll Knotenpunkt für neue Technologien werden – sowohl in der Forschung als auch in der Frage, ob es neue Regeln braucht. Dazu sollen Zentren für künstliche Intelligenz nach Vorbild des Cern gegründet werden.
- Mehr Selbstbewusstsein in Brüssel: 2028 hat die Schweiz den bilateralen Weg gesichert und tritt gegenüber der EU als selbstbewusster Partner auf. Sie redet mit, wenn in Brüssel Neues beschlossen wird – als Nicht-Mitglied.
Bei einer Podiumsdiskussion an der Uni Bern mit Journalisten aus der Deutschschweiz und der Romandie – darunter auch Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe – kam die Stossrichtung des Berichts grösstenteils gut an. Und Cassis selbst? Der Bericht sei für ihn eine «Inspirationsquelle, um die Aussenpolitik in den kommenden Jahren zu gestalten», sagte der Bundesrat. Und zwar entlang der beiden aussenpolitischen Hauptziele der Bundesverfassung: Unabhängigkeit und Wohlfahrt.