Trams, Busse, Velos, Autos, Lieferwagen: Der Casinoplatz ist ein unwirtlicher Verkehrsknoten in der Berner Altstadt. Seit einigen Wochen aber wird er von Hunderten Jugendlichen belagert. Tagein, tagaus. Der Grund: Nirgends in Bern gibt es eine grössere Population von Pokémon, jenen putzigen virtuellen Monstern, die mit der App Pokémon Go gejagt werden können.
Dass sich Christoph Blocher (75) just diese Adresse ausgesucht hat, um eine neue Phase im Kampf gegen Europa einzuläuten, mag ein Zufall sein. Einer allerdings, der passt.
Rahmenabkommen in der Schwebe
Seit Jahren verhandeln die Schweiz und die EU über ein Rahmenabkommen, das die bilateralen Beziehungen auf ein neues rechtliches Fundament stellen soll. Fortschritte sind nicht erkennbar. Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, ob Bern und Brüssel sich überhaupt einigen. Geschweige denn, wie der Vertrag letztlich aussehen wird. Das Rahmenabkommen ist ein virtuelles Ding. Quasi ein Pokémon. Und ihm sagte Blocher gestern im Berner Casino den Kampf an.
Es handle sich um einen Kolonialvertrag, erklärte Blocher. Die Schweiz werde Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität aufgeben müssen. Hiesige Diplomaten und Eliten wollten sie in die EU führen. Dagegen werde er sich wehren, auch mit finanziellen Mitteln. Blocher: «Ja, ich werde bezahlen.»
Geld für die EU-Schlacht
Neu ist das nicht. Schon 2014 erklärte der alt Bundesrat, er wolle keine Zeit mehr im Nationalrat verschwenden, sondern seine ganze Kraft und bis zu fünf Millionen Franken aus dem eigenen Sack in die nächste EU-Schlacht stecken.
Hörte man dem SVP-Strategen aus Herrliberg gestern zu, so musste man glauben, der Schweiz stehe ein historischer Kampf wie anno 1992 bevor. Warum gerade jetzt?
Taktisches Manöver
Es geht um Taktik. In sechs Monaten läuft die Umsetzungsfrist für die Masseneinwanderungs-Initiative ab. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Und das ist ein Problem für die SVP. Lenkt sie ein, verliert sie bei der Basis an Glaubwürdigkeit. Bleibt sie hart, verspielt sie Sympathien der Wirtschaft, die auf die Personenfreizügigkeit angewiesen ist.
Seit Ende Juli versucht Blocher nun, das dornenvolle Thema unter einer präzise getakteten PR-Offensive zu begraben. Erst schaltete die SVP ganzseitige Inserate in grossen Tageszeitungen. Dann sorgten Gerüchte, Blocher wolle eine Gratis-Sonntagszeitung aus dem Boden stampfen, für Hektik in der Presselandschaft. Der nächste Streich: Am Freitag reicht die SVP die Selbstbestimmungs-Initiative ein.
Warum auch sollte man sich abmühen mit der teuflisch schwierigen Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative, wenn man virtuelle Monster jagen kann?