Blick: Herr Chiesa, haben Sie sich beim Bundesrat schon für das EU-Mandat bedankt?
Marco Chiesa: Nein, wieso?
Jetzt haben Sie ein Thema, das Sie wunderbar bewirtschaften können. Am Dienstag lanciert die SVP die Kampagne gegen die Verhandlungen mit Brüssel.
Diese institutionelle Anbindung an die EU bedeutet eine riesige Gefahr für die Schweiz.
Was fürchten Sie?
Die Identität und die Unabhängigkeit der Schweiz stehen auf dem Spiel. EU-Recht soll künftig automatisch in der Schweiz gelten. Richter des Europäischen Gerichtshofs entscheiden, was in der Schweiz gilt. Wir müssen Milliarden an Brüssel überweisen. Und die Schweizer Bevölkerung hätte nichts mehr zu sagen.
Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz. Das Tessin oder Regionen wie Genf oder Basel profitieren von den Grenzgängern.
Beide Seiten profitieren. Ich habe nichts gegen enge wirtschaftliche Beziehungen. Ich bin aber dagegen, dass EU-Bürger in die Schweiz kommen und unsere Sozialsysteme plündern wollen.
Gerade Ihr Kanton, das Tessin, profitiert sehr von den Grenzgängern. Ihre Altersheime und Hotels sind auf günstiges Personal angewiesen.
Wir haben immer mehr Grenzgänger. Sie verdienen in der Schweiz gutes Geld. Aber sie verstopfen unsere Strassen und belasten die Umwelt. Letztlich senken sie die Löhne – die Kaufkraft ist im Tessin nicht gestiegen. Man findet immer einen Italiener, der bereit ist, für weniger Geld zu arbeiten.
Laut Wirtschaftsverbänden profitiert die Schweiz mehr von der EU, als diese sie kostet. Und der Forschungsplatz leidet unter der Abgrenzung von EU-Forschungsprogrammen und hat Mühe bei der Rekrutierung von Topshots. Das sagt selbst Ihr Parteikollege, Nationalfonds-Präsident Jürg Stahl. Was entgegnen Sie ihm?
Brüssel erpresst uns. Es ist ungerecht, dass wir bei Horizon nicht mitmachen können – dafür aber Länder, die gar keine engen Beziehungen mit der EU haben. Ich begrüsse es, dass Bundesrat Guy Parmelin Gespräche mit Grossbritannien, den USA und Asien führt. Dort sind die besten Unis der Welt.
Bei Streitigkeiten soll ein sogenannter gemischter Ausschuss entscheiden, mit Beteiligung der Schweiz. Warum fühlen Sie sich trotzdem erpresst?
Dieses sogenannte Schiedsgericht ist reine Dekoration. Am Ende entscheidet der Europäische Gerichtshof, und zwar bindend. Die Gegenpartei stellt also die Richter. Das ist das Ende der Schweiz, wie wir sie kennen und lieben. Wir haben eine direkte Demokratie, wie sie in Europa einzigartig ist.
Nennen Sie uns eine konkrete Gefahr, die von Brüssel ausgeht.
Die Deutsche Bahn sorgt überall für Chaos mit Streiks und Verspätungen. Brüssel will aber, dass wir das Schweizer Bahnnetz für ausländische Anbieter öffnen.
Sie haben einen mächtigen Mitstreiter: Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard. Haben Sie schon gemeinsam einen Schlachtplan entworfen?
Wir werden uns sicher mit Herrn Maillard absprechen. Allerdings ist er für einen Deal mit Brüssel, während wir gar keinen Deal wollen. Maillard redet von Sektoren, uns geht es um die Werte der Schweiz.
Die Präsidenten von Mitte und FDP, Gerhard Pfister und Thierry Burkart, gelten als kritisch gegenüber einer institutionellen Lösung. Haben Sie Hoffnung, dass die beiden Parteien in Ihr Lager wechseln werden?
Ich nehme Mitte und FDP als sehr unentschlossen wahr. Und bin gespannt, wie sie sich am Ende positionieren.
Es gibt da auch noch eine wichtige staatspolitische Frage, was die Spielregeln betrifft …
Ich bin überzeugt, dass der Vertrag mit Brüssel ein Volks- und Ständemehr erfordert.
Das sehen viele anders. Die Rektorin der Uni Freiburg, Astrid Epiney, hält ein Ständemehr für verfassungswidrig.
Andere Professoren widersprechen Frau Epiney. Beim Freihandelsabkommen und dem EWR-Beitritt wurden ebenfalls die Stände gefragt. Noch einmal: Mit dem EU-Abkommen würde unser erfolgreiches Staatssystem zerstört.
1992 hatte die SVP mit den Grünen einen Verbündeten gegen den EWR. Auf welche Verbündete setzen Sie dieses Mal?
Zunächst einmal auf das Volk. Wir werden alles tun, um die Basis zu mobilisieren. Dann werden wir uns wie gesagt natürlich auch mit den Gewerkschaften austauschen und nach Schnittmengen suchen.
Im Abstimmungskampf rund um die 13. AHV-Rente kam ein Brief von alt Bundesräten nicht gut an. Setzen Sie trotzdem auf alt Bundesräte wie Ueli Maurer?
Ueli Maurer ist ein heller Kopf. Wir brauchen seine Unterstützung und ich hoffe auf sein Engagement.
Eine treibende Kraft für die Annäherung ist Ignazio Cassis. Ist er noch der richtige Aussenminister, um mit Brüssel zu verhandeln?
Ich bin von Ignazio Cassis enttäuscht. Cassis hat bei seinem Amtsantritt von einem Reset-Knopf gesprochen – stattdessen ist jetzt «Game over». Cassis muss gestoppt werden. Wir wollen uns Brüssel nicht unterwerfen.
Bei seiner Wahl in den Bundesrat 2017 wurde Cassis von Ihnen unterstützt. Werfen Sie ihm heute Wortbruch vor?
Er hat keinen Reset-Knopf betätigt, daran gemessen hat er sein Wort nicht gehalten.
SP-Bundesrat Alain Berset hat stark auf die Gewerkschaften gehört und war Brüssel-kritisch. Sein Nachfolger Beat Jans gilt als Euro-Turbo. Vermissen Sie Herrn Berset?
Ich vermisse alle Bundesräte, die den Unterwerfungsvertrag mit der EU verhindern wollen.
Sie sind noch zwei Wochen Präsident der SVP. Was war in den dreieinhalb Jahren Ihr Höhepunkt?
Unser Mahnfeuer in Morschach war für mich sehr wichtig. Der Bundesrat hatte 2021 beschlossen, ein institutionelles Abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Wir zündeten ein grosses Feuer an, weil wir wussten, dass eine wichtige Schlacht gewonnen war, wir aber wachsam bleiben müssen.
Was werden Sie an dem Amt vermissen?
Die gute Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern der Parteiführung. Ich habe jeden Moment genossen – auch die Momente der Auseinandersetzung. Diese Zeit war für mich sehr bereichernd.