Am letzten Mittwoch zog der Bundesrat die Schraube an. Gesundheitsminister Alain Berset (49) schlug vor, das Obligatorium des Covid-Zertifikats auszuweiten. Der Nachweis für die Impfung, Genesung oder einen Test soll – sollte sich die Corona-Situation das erfordern – nicht mehr nur beim Reisen und an Grossveranstaltungen obligatorisch zum Einsatz kommen. Sondern auch in Restaurants, Bars, Fitnesscentern, Kinos, Hallenbädern und anderen Freizeit-, Sport- und Kulturbetrieben.
Bis heute Montag hatten die Kantone und Sozialpartner Zeit, sich zum Vorschlag zu äussern. Und es zeigt sich: Die ersten Kantone, die ihre Meinung abgeben, stützen den Bundesrat. Einem Kanton geht das alles sogar nicht weit genug: Graubünden stellt sich dagegen, dass nur einzelne Bereiche wie die Gastronomie und Kultur das Zertifikat verlangen sollen.
Graubünden will umfassende Pflicht
«Es gibt keine Alternative zu Impfen und Testen. Entsprechend ist die Zertifikatspflicht, sollte sie denn eingeführt werden, auf alle möglichen Bereichen auszudehnen», schreibt der Regierungsrat und sagt gleich auch, was ihm vorschwebt: Einreise in die Schweiz, Gastronomie und Hotellerie, Vereine und öffentliche Einrichtungen. Und: «Zu prüfen ist sie auch für den ÖV, die Arbeitswelt und bei Aufhebung der Maskenpflicht auch für Läden.» Ausgenommen werden könnte die Volksschule, wenn dort regelmässig getestet würde.
Liest man die Antwort, könnte man glauben, Graubünden wolle mit überzogenen Forderungen die Ausweitung abschiessen. Doch weit gefehlt: Die Regierung ist der Ansicht, dass die Massnahmen zum Schutz der Spitäler rasch die höchste Wirksamkeit erzielen müssten. «Zudem müssen die Massnahmen nachhaltig sein, damit insbesondere die Herbst- und die Wintersaison sicher durchgeführt werden können», heisst es. Der Tourismuskanton Graubünden schaut also schon sorgenvoll auf die nächsten Monate.
Verkehrsbranche schweigt
Und was sagen die, die die Zertifikatspflicht umsetzen müssen? Weder die SBB noch die Rhätische Bahn wollen sich äussern. Auch der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) hüllt sich in Schweigen.
Allerdings hatte deren Direktor Ueli Stückelberger (52) erst letzte Woche zu Blick gesagt, er halte eine Zertifikatspflicht für kaum durchsetzbar: «Wir haben eine Transportpflicht für alle ÖV-Kunden, das gilt auch für die Bahn. Die Zertifikatspflicht in den Zügen würde viele Menschen vom Zugfahren ausschliessen.» Zudem habe sich die Maskenpflicht bewährt, es brauche darum keine Anpassung der Regeln.
Basel will schnell handeln, Ostschweiz warten
Auch unter den Kantonen steht Graubünden recht allein da. Weniger weit gehen will man in der restlichen Schweiz. Zürich unterstützt den Vorschlag des Bundesrats weitgehend. Die angespannte Lage in den Spitälern rechtfertige eine Ausweitung der Zertifikatspflicht, schreibt der Regierungsrat – «zumal eine solche gegenüber weiteren Massnahmen wie Schliessungen klar vorzuziehen ist».
Kantone, die eher für eine Verschärfung sind: AI, AG, AR, BL, BS, FR, GR, JU, SO, SG, TG, ZH, VS, VD
Kantone, die eher gegen eine Verschärfung sind: LU, NE, NW, OW, ZG
Kantone, die sich noch nicht geäussert haben: GL, UR, SH, SZ, BE, TI, GE
Kantone, die eher für eine Verschärfung sind: AI, AG, AR, BL, BS, FR, GR, JU, SO, SG, TG, ZH, VS, VD
Kantone, die eher gegen eine Verschärfung sind: LU, NE, NW, OW, ZG
Kantone, die sich noch nicht geäussert haben: GL, UR, SH, SZ, BE, TI, GE
Auch die Kantone St. Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell sind für eine Ausweitung der Zertifikatspflicht, wenn die Zahl der Hospitalisierungen weiter ansteigt. Dies machen auch die Kantone Wallis und Zug geltend.
Basel-Stadt hingegen spricht sich für eine schnelle Ausweitung der Pflicht aus: «Massnahmen müssen ergriffen werden, bevor die Spitalkapazitäten ausgeschöpft sind. Die Massnahmen wirken bekanntlich erst mit einer gewissen Verzögerung», so die Kantonsregierung. Auch der Aargau will nicht länger zuwarten
Luzern und Schwyz hingegen betonen, dass die Zertifikatspflicht nur eingeführt werden soll, wenn «dies wirklich erforderlich ist». Derzeit ist dies aus Sicht des Luzerner Regierungsrats noch nicht der Fall. Das sehen auch die Regierungen in Nid- und Obwalden so – letzterer Halbkanton findet, dass Verschärfungen erst beschlossen werden sollen, wenn schon eine «nachweisliche Überlastung» des Gesundheitswesens vorliegt. Sollte die Pflicht kommen, würden den Restaurants erneute Umsatzeinbussen drohen, gibt Nidwalden zu bedenken. «Diese wären zwingend durch den Bund abzugelten.»
Zug fordert zudem, dass der Bund die Testkosten wieder übernimmt, wenn die Zertifikatspflicht ausgeweitet wird.
Baselland gegen Zertifikatspflicht für Restaurants
Baselland gehen die vorgeschlagenen Massnahmen hingegen auch bei drohender Überlastung des Gesundheitswesens zu weit. Eine Zertifikatspflicht für Restaurants? Das kommt für Basel-Landschaft nicht infrage. «Es wäre sehr problematisch, wenn z.B. eine Wirtin Stammgäste abweisen, der Betreiber eines Fitnesscenters langjährigen Abonnentinnen den Zugang zum Training verweigern oder ein Musikverein einen Teil seiner Mitglieder von gemeinsamen Proben ausschliessen müsste», schreibt die Regierung in ihrer Stellungnahme.
Die Ausweitung der Pflicht solle «nur dort erfolgen, wo aufgrund vieler Kontakte potenziell ungeimpfter Personen eine wesentliche bremsende Wirkung auf das Infektionsgeschehen erwartet werden» könnten. Dazu gehören aus Baselbieter Sicht Basellands Restaurants oder Vereinsproben sicher nicht.
Ähnlich sieht das auch die Waadt. Sie wehrt sich dagegen, dass Restaurants in den gleichen Topf geworfen werden wie Bars und Nachtclubs – die Ansteckungsgefahr sei in Restaurants viel geringer. Das Zertifikat dürfe dort nur als letztes Mittel zum Einsatz kommen.
Schaffhausen schlägt vor, den Gastronomiebetrieben die Wahl zu lassen, ob sie eine Zertifikatspflicht einführen wollen und damit enger bestuhlen können oder ob sie nach dem bisherigen Regime weiter arbeiten möchten.
Ausnahme für religiöse Veranstaltungen
Thurgau – wo sämtliche Intensivbetten belegt sind und Patienten abgewiesen werden müssen – sieht die Ausweitung der Zertifikatspflicht derweil als «Chance»: «Mit diesem Vorgehen kann die Ansteckungsgefahr zielgerichtet und unter zumutbaren Bedingungen eingeschränkt werden, damit ein erneuter Lockdown unter allen Umständen verhindert werden kann.» Für die Betriebe bringe das zwar einen gewissen Aufwand, der aber auch mit Erleichterungen einhergehe: So könnte etwa auf die Maskenpflicht in Restaurants verzichtet werden.
Keine Zertifikatspflicht soll aus Sicht der Thurgauer Regierung bei religiösen Veranstaltungen und politischen Versammlungen gelten. Der Bundesrat sieht eine solche vor, wenn daran mehr als 30 Personen teilnehmen. Jura schlägt diesbezüglich als Kompromiss vor, die Zertifikatspflicht bei religiösen Feiern erst ab 50 Personen vorzusehen. Die jurassische Regierung möchte zudem, dass auch für kulturellen Einrichtungen die Regeln gelockert werden und erst ab einer Grenze von 30 Personen eine Zertifikatspflicht gilt.
Uneins bei der Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz
Kritik gibt es vonseiten einiger Kantone auch an der vorgeschlagene Pflicht zur Kontaktdatenerhebung in Diskotheken und Tanzlokalen. Freiburg und Thurgau lehnen dies ab. Andere Kantone wie beispielsweise Jura betonen hingegen, dass dies sehr wichtig sei, um das Contact Tracing zu entlasten.
Bei der Frage, ob auch Arbeitgeber das Zertifikat von Mitarbeitenden verlangen dürfen, gehen die Meinungen ebenfalls auseinander. Während etwa Appenzell Ausserrhoden und St. Gallen dies als freiwillige Massnahme für die Arbeitgeber begrüssen, lehnen Neuenburg und der Thurgau das bis auf wenige Ausnahmen ab. Das Wallis sagt, dass dies seiner Meinung nach schon heute möglich ist.
Freiburg will Zertifikat auch an der Uni
Einige Kantone schlagen ausserdem zusätzliche Massnahmen vor. Freiburg fordert beispielsweise, dass das Zertifikat auch an Hochschulen eingesetzt werden kann, sofern die Corona-Situation dies erfordere.
Der Thurgau und Obwalden verlangen eine Verschärfung der Massnahmen an der Grenze. «Im Hinblick auf die aktuellen Erfahrungen mit Reiserückkehrern und den bevorstehenden Herbstferien erwarten wir vom Bundesrat eine Verschärfung der Einreisekontrolle an den Schweizer Grenzen», schreibt der Obwaldner Regierungsrat. Thurgau verlangt, dass Einreisequarantäne und verstärkte Grenzkontrollen eingeführt werden. Auch Aargau und Zug wollen, dass nichtgeimpfte Reiserückkehrer in Quarantäne müssen.