Der Bundesrat streitet an der heutigen Europa-Klausur erneut über die Zukunft der bilateralen Beziehungen mit der EU. Ob Aussenminister Ignazio Cassis (56) danach Neues verkünden kann, ist unklar. Die Mitglieder der Landesregierung sind sich beim Inhalt des Rahmenabkommens und der Frage nach neuen Marktzugangs-Abkommen alles andere als einig.
Kaum Wünsche nach neuen Abkommen
Und auch die Wirtschaft spricht nicht mit einer Stimme. BLICK hat mit den Chefs der acht wichtigsten Wirtschafts- und Branchenverbänden gesprochen. Ergebnis: Ein Stromabkommen wird teils gewünscht. Ebenso den weiteren Abbau der technischen Handelshemmnisse.
Ein Finanzdienstleistungsabkommen, wie es seit Jahren diskutiert wird, fordert hingegen niemand. Auch von Cassis angedachte neue Verträge zum Roaming oder im Gesundheitsbereich sind kein Thema.
Mehr Rechtssicherheit dank Rahmenabkommen
Vor allem aber zeigt die Umfrage, dass nur gerade vier Wirtschaftsverbände explizit einen Vertrag verlangen, der die Grundsätze der Zusammenarbeit mit der Union regelt: «Für den Marktzugang in der EU und vor allem für die Rechtssicherheit in der Schweiz ist ein Rahmenabkommen wichtig», sagt Arbeitgeber-Präsident Valentin Vogt (57).
Wegen der «Rechtssicherheit» plädieren auch Swissholding-Präsident Karl Hofstetter (61) und Hans Hess (62), Präsident des Industrieverbands Swissmem, für einen baldigen Verhandlungsabschluss. «Längerfristig ist es im Interesse der Wirtschaft, die Beziehungen zu Europa auf eine tragfähige Basis zu stellen und weiterzuentwickeln», sagt auch Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer (58).
Vier Verbände nicht pro Rahmenabkommen
Kritischer sind die vier anderen Verbände – sie sprechen sich zwar nicht explizit gegen den von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (63) angepriesenen «Freundschaftsvertrag» aus. Fordern ihn aber auch nicht. Ein solcher sei «weniger wichtig», so Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler (59).
Die Banken verlangen die langfristige Gleichbehandlung der hiesigen Börse. Diese wird von der EU diskriminiert, um Druck auf einen raschen Verhandlungsabschluss auszuüben. Herbert J. Scheidt (66), Präsident der Bankiervereinigung, fordert jedoch nicht, dem Druck nachzugeben: «Die Gespräche zu einem Rahmenabkommen wären leichter, wenn auf die zeitliche Beschränkung der Schweizer Börsenäquivalenz verzichtet würde», sagt er.
Scienceindustries-Präsident Gottlieb Keller (63) und Bauernverbands-Präsident Markus Ritter (50) wollen sich weder für noch gegen ein Rahmenabkommen positionieren.
Keine Akzeptanz für «fremde Richter»
Der grosse Streitpunkt ist die Frage, welche Richter bei Streitigkeiten entscheiden würden. Für die Chefs der Wirtschaftsverbände kommt vor allem ein Schiedsgericht in Frage. Die Schweiz und die EU würden bei einem solchen je einen Richter stellen und gemeinsam einen dritten, neutralen berufen. Das Schiedsgericht würde dann urteilen, wenn sich der Gemischte Ausschuss nicht einigen kann.
«Der Weg über ein Schiedsgericht scheint mir am erfolgversprechendsten», so Swissmem-Präsident Hess. «Die Schweiz fährt traditionell gut mit Schiedsgerichten. Auf der Grundlage der heute zur Verfügung stehenden Informationen würden wir derzeit diese Lösung bevorzugen», so auch Swissholding-Präsident Hofstetter. Auch für Arbeitgeberverbands-Chef Vogt ist einzig ein Schiedsgericht hierzulande mehrheitsfähig.
Kombi aus EU-Gericht und Bundesgericht
Die EU favorisiert den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser stösst in weiten Teilen der Schweiz wegen der «fremden Richter» auf Ablehnung. So auch bei allen Wirtschaftsverbänden. Economiesuisse-Präsident Karrer will eine Kombi-Lösung: «Aktuell steht ein System mit einem internationalen Schiedsgericht, unserem Bundesgericht und dem Europäischen Gerichtshof zur Debatte. Dieser Ansatz sollte weiterentwickelt werden.»
Der Bundesrat steht in der EU-Politik vor der Herkulesaufgabe. Er muss nicht nur die EU überzeugen, sondern auch Parteien, Volk und die gespaltene Wirtschaft hinter sich scharen. An der heutigen Klausur in einem Landgasthof zwischen Bern und Freiburg kann er nun zumindest mal versuchen, die eigenen Reihen zu schliessen.