Streit mit der EU: Österreichs Aussenminister hilft der Schweiz
«Nun müssen Verhandlungen gestartet werden»

Freund der Schweiz. ÖVP-Minister Sebastian Kurz will eine Lösung zur Masseneinwanderungsinitaitive.
Publiziert: 23.08.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 21:06 Uhr
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«Ich bin ein ­begeisterter ­Pro-Europäer»: Minister Kurz ist der bliebteste ­Politiker in ­Österreich.
Foto: Moni Fellner
Interview: Joël Widmer; Fotos: Moni Fellner

SonntagsBlick: Herr Aussenminister, Sie sind ein Fan der direkten Demokratie. Welche Abstimmung in der Schweiz ist Ihnen positiv in Erinnerung?

Sebastian Kurz: Ein gutes Beispiel, wie weise die Bevölkerung entscheidet, war die Abstimmung über die Initiative zur Ausdehnung des Urlaubs auf sechs Wochen. Da hätte man annehmen können, dass sich die Masse dafür ausspricht. Aber nein: Die Abstimmung ging in die andere Richtung.

Haben Sie nicht gedacht: Wie dumm sind denn die Schweizer?
Nein. Es ist ein Beweis dafür, wie gut direkte Demokratie funktionieren kann und die Bevölkerung mehr Verantwortung wahrnimmt, als viele Politiker glauben.

Worüber würden Sie Ihre Landsleute derzeit gerne abstimmen lassen?
Nicht die Politiker sollen abstimmen lassen, weil sie sich nicht trauen, eine Entscheidung zu treffen, sondern die Bevölkerung soll ein Initiativrecht bekommen, Abstimmungen herbeizuführen – auch in Österreich wäre das interessant.

Ich muss Sie warnen: Direkte Demokratie kann für Politiker sehr ungemütlich sein. Die Schweizer Regierung hat mit der Masseneinwanderungs-Initiative den schwierigen Auftrag erhalten, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln. Wird sie erfolgreich sein? Ist Österreich dazu bereit?
Wir werden auf europäischer Ebene klar dafür werben, dass hier eine Lösung verhandelt wird. Das haben wir mit der Schweiz vereinbart. Ich verstehe zwar den Zugang in der Europäischen Union, dass es kein Rosinenpicken geben darf. Aber auf der anderen Seite muss es in unserem Interesse sein, zu diesem Volksentscheid eine Lösung mit der Schweiz zu finden.

Warum setzen Sie sich für die Schweiz ein?
Der Fairness halber muss man ­sagen: Das Thema Zuwanderung wird nicht nur in der Schweiz diskutiert. Auch andere Länder haben dazu Diskussionen losgetreten. So zum Beispiel Grossbritannien. Die Personenfreizügigkeit per se wird zwar nicht in Frage gestellt. Thema ist aber, welche Sozialleistungen ein Zuwanderer ab wann in Anspruch nehmen darf.

Sie plädieren also für ernsthafte Verhandlungen über eine mögliche Anpassung der Personenfreizügigkeit mit der Schweiz?
Definitiv. Wir haben ein Interesse, dass hier eine Lösung gefunden wird. Aus österreichischer Perspektive möchte ich aber verdeutlichen: Wir wollen keine Lösung, die zu einer Benachteiligung der 60'000 Österreicher führt, die in der Schweiz arbeiten.

Bis jetzt hiess es von Seiten der EU immer: Die Personenfreizügigkeit ist nicht verhandelbar. Was liegt da für die Schweiz überhaupt drin?
Es ist trotzdem so, dass es diesen Volksentscheid gegeben hat. Es gibt daher eine Notwendigkeit, eine Lösung zu finden. Diese Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU müssen nun gestartet werden. Wir werden unseren Beitrag leisten, dass sie stattfinden und positiv zu Ende gebracht werden.

Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen Ländern eine sehr hohe Zuwanderungsrate – Österreich ebenso. Sie scheinen Verständnis zu haben, für die Bedenken der Schweizer Bevölkerung.
Es wird uns in Europa sehr gut tun, wenn die Diskussion, welche Grossbritannien losgetreten hat, nun auch geführt wird. Die Personenfreizügigkeit ist eine zentrale Säule der Union, die verteidigt werden muss. Damit diese Freizügigkeit in Zukunft auch weiter funktioniert und sie nicht gefährdet wird, müssen wir in Europa darüber diskutieren, ab wann ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht. Denn Personenfreizügigkeit bedeutet, dass man sich aussuchen kann, in welchem Land man arbeiten möchte. Es bedeutet nicht, sich aussuchen zu dürfen, welches Sozialsystem am besten zu einem passt.

Stellen Sie eine Einwanderung in das österreichische Sozialsystem fest?
Direkt kaum. Wir stellen aber fest, dass Zuwanderer, die ihre Arbeit verlieren, im sehr attraktiven österreichischen Sozialsystem verharren. Offenbar ist der Druck, in andere Arbeitsmärkte weiterzuziehen, zu klein.

Wo wollen Sie da ansetzen?
Der Grundgedanke der Personenfreizügigkeit muss gewahrt werden, aber man darf sich nicht das Sozialsystem aussuchen. Es gibt auch weitere Fehlentwicklungen. So zahlt Österreich etwa 150 Mil­lionen Euro im Jahr an Familienbeihilfe ins EU-Ausland für Kinder, die nicht in Österreich leben, deren Vater oder Mutter aber in Österreich berufstätig ist.

Wo liegt das Problem?
Das führt dazu, dass das Kind ­eines Rumänen, der in Österreich arbeitet, in Rumänien 150 Euro Familienbeihilfe bekommt, während das rumänischen Kind, dessen Eltern in Rumänien arbeiten, nur rund 20 Euro erhält. Eine riesige Differenz. Ein Durchschnittseinkommen in Rumänien liegt bei 300 bis 400 Euro. So kann man bei zwei Kindern quasi ein zusätzliches Einkommen generieren. Das ist sicher nicht im Sinne des Erfinders.

Wären Anpassungen bei Anrecht auf Sozialleistungen ein Weg, um auch der Schweiz entgegenzukommen?
Diese Diskussion deckt sicher auch einige von der Schweiz thematisierte Bereiche ab.

In der Schweiz wird immer wieder eine Schutzklausel als Lösung vorgeschlagen. Ist das für Sie ein Weg?
Das wird Teil der Verhandlungen mit der EU sein und möchte ich jetzt nicht kommentieren.

Sie sind als junger Aussenminister historisch unbelastet. Wie erleben Sie die EU?
Ich bin ein begeisterter Pro-Europäer. Ich halte die EU nicht nur für ein sehr wichtiges Friedensprojekt, sondern ein Projekt, das insbesondere jungen Menschen einzigartige Chancen und Möglichkeiten bietet. Ich bin aber der Meinung, dass sich die EU stetig weiterentwickeln sollte, um noch besser zu werden.

Sollte die Schweiz der EU beitreten? Oder haben wir recht, dass wir aussen vor geblieben sind?
Ich bin sehr froh, dass Österreich den Schritt in die Europäische ­Union getan hat. Wir haben insbesondere wirtschaftlich sehr stark davon profitiert. Was die Schweiz betrifft, steht es mir nicht zu, eine Vorgabe zu machen.

Wir erleben in Europa eine Flüchtlingswelle. Sogar Sozialdemokraten fordern in Österreich: Grenzen dicht. Ist das europäische Schengen-Dublin-System am Ende?
Es funktioniert zumindest im Moment nicht. Es gibt keine ausreichende Grenzsicherung an den EU-Aussengrenzen. Es ist zum Beispiel auch innerhalb der EU nicht möglich, Flüchtlinge nach Griechenland zurückzustellen, deren Verfahren eigentlich dort abgewickelt werden sollten. Insofern haben wir hier grosse Probleme.

Ist es nicht ein Systemfehler: Griechenland und Italien können doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, die bei ihnen landen.
Es geht nicht darum, alle aufzunehmen. Aber Dublin sieht genau vor, wo Verfahren abzuhalten sind. Und ja: Das System funktioniert derzeit nicht. Hier muss die EU aktiv werden und eine bessere Verteilung in Europa erreichen. Es braucht mehr Solidarität der Staaten, die jetzt kaum Flüchtlinge haben. Und es braucht vor allem ein aktiveres Vorgehen gegen den IS-Terror. Der Hauptfluchtgrund für die Menschen, die derzeit nach Österreich kommen, ist der islamistische Terror.

Wie wollen Sie das machen? Sie sind ein neutraler Staat.
Gegenüber dem Terrorismus gibt es keine Neutralität. Hier braucht es ein entschlossenes Vorgehen. Wir tun das innenpolitisch mit polizeilichen Massnahmen gegen Foreign Fighters aus Österreich und Europa, die in den Kampf nach Syrien ziehen. Wir beteiligen uns an der internationalen Koalition gegen den IS-Terror. Wir leisten humanitäre Hilfe für die Opfer vor Ort. Es braucht aber auch ein noch aktiveres militärisches Vorgehen der Staaten, welche die Möglichkeiten und Kapazitäten dazu haben. Auch wir Österreicher sollten einen Schritt weitergehen und zum Beispiel Schutzausrüstung vor Ort für jene zur Verfügung stellen, die sich gegen den IS-Terror zur Wehr setzen.

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