Die Erinnerungen an all die 1.-August-Reden sind noch frisch. Wie jedes Jahr betonten zahlreiche Volksvertreter Unabhängigkeit und Willenskraft der Eidgenossenschaft. Die Eidgenossenschaft? Sie ist ein Verbund von Kantonen, die sich zusammengeschlossen haben, um eigenständig zu bleiben. Schon damals, vor 727 Jahren, war die Vorstellung überholt, dass der Weg zur Selbstbestimmung über die Isolation führen würde.
Oberste Priorität hat in einem Staat die Sicherheit der Bevölkerung. Und so paradox das auch klingen mag: Um souverän zu bleiben, müssen dafür Kräfte gebündelt werden – auch heute noch. Verändert haben sich nur die Relationen. Umso mehr in einer Welt, wo sich die Menschen dank elektronischer Mittel immer häufiger austauschen und die Mobilität in horrendem Tempo zunimmt. Grenzen dienen uns weiter als Orientierung, aber sie schützen uns nicht automatisch. Sie nützen den Kriminellen sogar, wenn nationale Polizeikorps nicht am selben Strick ziehen.
Seit die Schweiz vor zehn Jahren per Volksabstimmung dem Schengenraum beigetreten ist, profitiert sie vom Zugang zu Sicherheitsdaten ihrer Nachbarn. Im Gegenzug hat sie für die angrenzenden Länder die Visa-Bürokratie beseitigt. Damit hat die Schweiz ohne grossen Aufwand verschiedene Bereiche der Wirtschaft angekurbelt, etwa den Tourismus. Und es ist sicherer geworden bei uns – trotz eines Negativhöhepunkts im Jahr 2011.
Ist die Schweiz deswegen heute weniger eigenständig? Ich glaube nicht. Sie muss bloss auf europäischer Ebene das kopieren, was ihr einst hierzulande gelungen ist: einen Konsens zu finden über gemeinsame Regeln. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen Massnahmen, die einerseits öffentliche Rechte und anderseits die Freiheit des Einzelnen garantieren.
Da liegt die wahre Souveränität: Sie lehnt Zusammenarbeit nicht ab, sondern profitiert davon. Dafür muss die Schweiz aber mitgestalten, statt sich einzuigeln.
Pierre Maudet (40) ist Regierungspräsident des Kantons Genf. Der FDP-Politiker ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.