Göschenen UR am letzten Mittwoch. SonntagsBlick hat den Tessiner CVP-Ständerat Filippo Lombardi (59) und den Bündner SP-Grossrat Jon Pult (31) zum Duell zur Gotthard-Abstimmung geladen. Verkehrspolitiker Lombardi kämpft beherzt wie kein zweiter für die zweite Strassenröhre, Pult, der Präsident der Alpen-Initiative, ebenso entschlossen dagegen. Wir wollen das Streitgespräch nicht irgendwo machen – sondern im Tunnel selbst. Das Reiseunternehmen Eurobus hat uns dazu einen Bus zur Verfügung gestellt. Das garstige Schneegestöber verkürzt den Fototermin beim Einsteigen auf Sekunden. Dann fährt uns Chauffeur Philipp Probst sicher durch den Tunnel.
SonntagsBlick: Herr Lombardi, wir sind jetzt im Gotthardtunnel. Sie benutzen ihn 200-mal im Jahr. Gab es brenzlige Momente?
Filippo Lomardi: Seit zehn Jahren bin ich mit einem Chauffeur unterwegs. Gefährliche Momente gab es aber auch schon. Einmal touchierten wir ein anderes Fahrzeug. Daraufhin mussten wir in einer Nische warten. Das war schon beängstigend.
Herr Pult, welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Tunnel?
Jon Pult: Es ist heute genau das fünfte Mal, dass ich durch diese Röhre fahre. Ich benutze den öffentlichen Verkehr, fahre selber nicht Auto. Für uns Bündner ist der San Bernardino die Verbindung ins Tessin.
Verstehen Sie, wenn Autofahrer in diesem engen Stollen mit Gegenverkehr ein mulmiges Gefühl beschleicht?
Pult: Autofahren ist keine risikofreie Angelegenheit. Jeder Tunnel hat etwas Unangenehmes. Das kann ich verstehen. Die Frage ist, ob die Milliarden für eine zweite Röhre die Sicherheit wirklich erhöhen. Unter dem Strich ist das nicht so, weil mit der Attraktivitätssteigerung der Strasse auch der Verkehr und damit die Unfallgefahr zunimmt.
Herr Lombardi, laut Studien würde die Zahl der Unfälle mit Verletzten im Gotthard von heute 10,6 auf fünf pro Jahr sinken. Ist es richtig, dafür 2,8 Milliarden Franken auszugeben?
Lombardi: Wir hatten in den letzten Jahrzehnten viel Glück. Wir sitzen hier in einem Reisebus. Stellen Sie sich vor, es würden eines Tages zwei Schweizer Cars frontal kollidieren! Sie wären die Ersten, die in Ihrer Zeitung aufschreien würden: Warum hat die Politik für die Sicherheit nichts getan?
Pult: Die Kosten von 2,8 Milliarden sind übrigens Propaganda. Der Bund rechnet mit Erhaltungskosten von 40 Millionen Franken jährlich. Das ergibt bei einer Betriebszeit von 30 Jahren weitere 1,2 Milliarden Franken Kosten.
Dann muss man mit dem Risiko einfach leben, Herr Lombardi?
Lombardi: Diese Röhre ist nicht mehr zeitgemäss. Sie wurde 1980 für Lastwagen und Cars gebaut, die 2,30 Meter breit waren. Heute sind diese Fahrzeuge 2,55 Meter breit. Das heisst, sie kreuzen mit 50 Zentimeter weniger Abstand als früher. Spüren Sie jedes Mal den Ruck, wenn uns ein Brummi kreuzt? Das macht die Reise so bedrohlich.
Herr Pult, nehmen Sie einen unsicheren Tunnel in Kauf?
Pult: Weg mit den Lastwagen, Güter auf die Schiene! Das sagt die Verfassung. Mit jedem Lastwagen weniger wird die Sicherheit erhöht. Als Sofortmassnahme zum Nulltarif könnte man zudem die Geschwindigkeit von 80 km/h auf 60 km/h senken.
Lombardi: Das ist doch keine Lösung! Die grösste Gefahr auf einer solch langen und monotonen Strecke mit weniger Sauerstoff als draussen ist, dass Automobilisten einschlafen. Wenn sie langsamer und länger fahren müssen, steigt dieses Risiko.
Dem Argument von weniger Lastwagen stimmen Sie zu?
Lombardi: Das machen wir doch schon. Vor fünfzehn Jahren benutzten 1,4 Millionen LKW die Schweizer Alpen-Transitrouten, heute sind es noch knapp eine Million. Wir Tessiner wollen auch weniger Lastwagen. Mit der Neat haben wir jetzt ein Instrument, um noch mehr Schwerverkehr auf die Schiene zu bringen.
Pult: Das ist doch absurd! Warum wollen Sie jetzt – wenige Wochen vor der Eröffnung der neuen Eisenbahn-Alpentransversale – eine zweite Strassenröhre durchboxen? Warum warten wir nicht ab, bis wir sehen, was die Neat leisten kann? Warum setzen wir ein falsches Zeichen an die EU und geben grünes Licht für vier Spuren am Gotthard?
Lombardi: Die Neat braucht fünf Jahre, bis sie voll betriebsbereit ist. Dazu braucht es den Ceneri-Basistunnel, den Vier-Meter-Korridor von Basel nach Chiasso, die Zulaufstrecken im Ausland und die Verlade-Terminals. Wenn alles fertig ist, hat die Bahn noch zehn Jahre Zeit, sich durchzusetzen. Erst dann steht der sanierte Gotthard-Strassentunnel zur Verfügung. Und das Tessin wäre nie isoliert!
Was wären denn die Konsequenzen einer Vollsperrung, Herr Lombardi?
Lombardi: Für die Wirtschaft, speziell in der Leventina, wäre es eine Katastrophe! Es drohen Einnahmeverluste von Hunderten Millionen Franken. Viele Betriebe müssten schliessen. Und wenn sie in den Randgebieten geschlossen sind, dann öffnen sie nie mehr.
Herr Pult, Sie als Bündner: Ihr Kanton lebt von der Solidarität der Restschweiz. Wollen Sie das Tessin abhängen?
Pult: Werden Infrastrukturen saniert, kommt es immer zu Einschränkungen. Aber die Leute im Tessin und in Uri leiden schon heute massiv unter dem Transitverkehr. Aber nicht nur die Lebensqualität, auch die Wirtschaft leidet unter dem Stau. Ich nahm kürzlich am Brenner einen Augenschein. Zwei Millionen Lastwagen rollen pro Jahr über den Brennerpass. Eine Katastrophe für die Umwelt und die Menschen, die dort wohnen. Wollen wir solche Verhältnisse auch in der Schweiz?
Lombardi: Herr Pult, ich bitte Sie. Hören Sie auf, das stimmt doch nicht, was Sie sagen. Sie betreiben ein gefährliches Spiel. Sie trichtern den Leuten ein, bei einem Ja am 28. Februar ginge es um vier Spuren. Wollen Sie dann, wenn das Ja kommt, dass die Bürger meinen: «Jetzt haben wir bereits für vier Spuren gestimmt?»
Pult: Jetzt mal gaaanz langsam, Herr Ständerat. Sie waren vor zwölf Jahren bei der Abstimmung über die Avanti-Initiative noch selber für zwei zusätzliche Spuren am Gotthard. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie Ihre Meinung geändert haben. Aber die Lastwagen-Lobby will zusätzliche Kapazitäten. Sie wittern die Chance, 30 Jahre Verlagerungspolitik zunichtezumachen!
Lombardi: Wir wissen jetzt, dass die Gesamtsanierung eine dreijährige Schliessung erfordert, was der damalige Verkehrsminister Leuenberger verneinte. Dagegen setze ich mich ein, nicht für mehr Spuren! Wenn wir dazu die Sicherheit markant erhöhen können, umso besser. Übrigens, die Kapazitäten sind heute schon nicht ausgenutzt. Eigentlich könnten 1,5 Millionen Camions jährlich durch den Gotthard fahren. Es sind aber nur 900'000. Und dank der Neat werden es bald noch weniger sein.
Pult: Also bitte, dann warten wir doch zu. Und schaffen nicht milliardenteure Fakten aus Beton. Es besteht null Zeitdruck.
Weshalb?
Pult: Seit November wissen wir dank des Bundesamts für Strassen, dass die Sanierung erst 2035 und nicht schon 2025 erfolgen muss. Die Decke kann ohne Sperrung repariert werden.
Lombardi: Das ist richtig. Aber es ändert nichts daran, dass der Tunnel dann doch gesamtsaniert werden muss. Sie spielen nicht mit offenen Karten, Herr Pult. Wenn Sie überhaupt keine neue Röhre am Gotthard gewollt hätten, hätte Ihr Verein – die Alpen-Initiative – genau das in die Verfassung schreiben müssen.
Pult: Bei der Abstimmung – 1994 – war ich zehn Jahre alt ...
Lombardi: ... dann halt Ihre Genossen ...
Pult: ... bitte, es hat auch Bürgerliche in unserem Komitee.
Lombardi: Und Sozis bei uns. Wir verlagern den Schwerverkehr in der Schweiz, genau wie Sie das verlangen. Trotzdem muss der Strassentunnel saniert werden. Basta! Im Übrigen: Dass wir überhaupt abstimmen, verdanken wir Doris Leuthard.
Warum?
Lombardi: Sie wusste, wie sensibel die Bevölkerung ist. Deshalb wollte sie dem Parlament eine referendumsfähige Vorlage unterbreiten, obwohl dies für eine Sanierung ohne Kapazitätserweiterung gar nicht nötig gewesen wäre.
Sogar Leuthards Vorgänger Moritz Leuenberger glaubt nicht, dass der Tunnel nur zweispurig befahren werden wird. Der Druck sei zu gross.
Lombardi: Diese Aussagen sind verheerend. Glaubt Leuenberger an die Demokratie? Das Volk wird immer das letzte Wort haben.
Pult: Das ist doch naiv. Das Parlament könnte das anpassen. Natürlich hätte das Volk die Möglichkeit eines Referendums. Aber stellen Sie sich vor: Bei jedem Stau an Ostern würden Rufe laut, endlich den Verkehr auf vier Spuren rollen zu lassen.
Auch die EU könnte den Druck erhöhen.
Pult: Ich bin ein Freund des Friedensprojekts EU. Aber die Verkehrspolitik der Union ist grundfalsch. Sie setzt beim Güterverkehr auf Gummi statt auf die Schiene. Hier in der Schweiz können wir Einfluss nehmen auf die Verkehrspolitik. Deshalb dürfen wir jetzt auf keinen Fall einen falschen Entscheid fällen.
Lombardi: Wieder falsch. Wir haben schriftliche Zusicherungen der EU, dass sie unser Regime akzeptieren würde. Und Deutsche und Italiener bereiten sich für die Verladeterminals und Zulaufstrecken zur Neat vor.
Christian Menn, bekannter Schweizer Bauingenieur, kritisiert die zweite Röhre heftig. Es gehe billiger, zum Beispiel könne man die Strasse nach Andermatt ausbauen, und einen kürzeren Tunnel bohren.
Lombardi: Dümmer geht es nicht mehr. Das ist doch völlig unpraktikabel. Schauen Sie die Schöllenenschlucht an. Hier wollen Sie die Strasse ausbauen? Absurd.
Pult: Ob das eine gute Variante ist, muss diskutiert werden. Entscheidend ist: Die zweite Röhre ist verschwenderisch. Es ist gut, wenn einige gescheite Leute etwas Hirnschmalz investieren, um eine bessere Lösung zu finden.