Herr Lombardi, Sie sind gerade aus der Türkei zurückgekehrt, wo die Lage mit der Verhaftung von Parlamentariern eskaliert. Haben Sie das auf der fünftägigen Reise der ständerätlichen Delegation ebenfalls bemerkt?
Filippo Lombardi: Jeder Tag brachte neue schlechte Nachrichten: ein neuer Regierungsbeschluss mit der Entlassung von 11'000 Leuten, insbesondere Lehrern, die Inhaftierung des Chefredaktors und verschiedener Journalisten der Zeitung «Cumhuriyet», der Aufruf Erdogans, die Todesstrafe wieder einzuführen, bis nun Freitag Nacht die Verhaftung von elf Parlamentariern der HDP. Es war eine deprimierende Reise.
Sie konnten noch nach der Verhaftung der HDP-Leute mit Vertretern der Partei sprechen. Wie haben die auf die Verhaftungswelle reagiert?
Sie hatten es erwartet, nachdem die Immunität ihrer Abgeordneten suspendiert worden war. Es ändert aber an ihrer Entschlossenheit nichts. Sie erwarten, dass die kurdische Diaspora weltweit reagiert. Sie setzen weiterhin auf friedliche und demokratische Mittel, wissen aber, dass in solchen Situationen die Gewalt einmal mehr eskaliert.
Sie konnten auch Vertreter der Regierungspartei AKP sprechen. Wie begründen diese das Vorgehen?
Mit der Säuberung der Gülen-Anhänger nach dem Putschversuch sowie mit der Bekämpfung des IS- und PKK-Terrorismus – und sogar mit den Menschenrechten. Das höchste Menschenrecht sei das Recht auf Leben, sagten sie uns. Terroristen würden das Leben des türkischen Staats und seiner Bevölkerung bedrohen – da könne es keine Gnade geben.
Wie ist die Stimmung im Land?
An der Oberfläche sieht man wenig, wenn man aber mit den Leuten offen sprechen kann, spürt man Pessimismus und Resignation. Die Bevölkerung hält sich zurück. Die Hälfte, die die Regierung unterstützt, verspricht sich mehr Sicherheit und eine stärkere Türkei, die andere Hälfte ist aber verunsichert und besorgt. In regierungskritischen Kreisen herrscht vor allem Angst. Sie befürchten immer mehr Druck unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung.
Beobachter sehen die Türkei an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg. Teilen Sie diese Ansicht?
Nein, daran glaube ich nicht. Wie gesagt, die Hälfte der Bevölkerung unterstützt die Regierung, die andere ist eher resigniert. Sie wissen was auf sie zukommt, sie haben es in der Geschichte bereits erlebt. Wer kann, versucht höchstens das Land zu verlassen. Es wird wahrscheinlich eine Welle von Attentaten geben, die PKK wird im Süden aktiver kämpfen und versuchen, sich auf die Kurden in Syrien und Irak zu stützen, aber keine Seite kann diesen Kampf militärisch gewinnen. Und an einem Bürgerkrieg glaube ich wirklich nicht.
Aussenminister Didier Burkhalter wurde kritisiert, weil er die Entwicklung in der Türkei zu wenig scharf verurteilt hat – etwa beim Besuch des türkischen Aussenministers Mevlüt Çavusoglu in Bern. Hätten auch Sie sich klarere Worte gewünscht?
Das ist eine schwierige Frage. Denn mittlerweile wird alles, was aus dem Westen kommt, als Angriff auf die türkische Identität angesehen. Zum Teil ist das verständlich, etwa wenn man sich die taktischen Spielchen der EU in Sachen Türkei-Beitritt ansieht. In einem solchen Klima laufen aber auch berechtigte Kritik und selbst gute Ratschläge Gefahr, als Beleidigung aufgefasst zu werden. Dennoch: Gerade weil die türkische Regierung sich zum Ziel gesetzt hat, das Land von Europa zu entfernen, müssen wir im Gespräch bleiben mit der Zivilgesellschaft und mit allen Parteien. Sonst spielen wir das Spiel der Abschottung mit.
Welche Rolle kann die Schweiz in dieser Situation übernehmen?
Wir sollten uns nicht überschätzen. Aber eben weil wir nicht Teil der EU sind und auch keine militärischen oder post-kolonialen Interessen am Bosporus haben, sollten wir uns engagieren. Nicht, indem wir verurteilen, sondern indem wir unserer Sorge Ausdruck verliehen, nicht zuletzt um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Kritik in diesem Sinn sollte es aus der Schweiz weiter geben.