BLICK: Herr Hubacher, die Sozialdemokratie und die Sozialisten in Europa befinden sich in einer Krise. In den Niederlanden und in Frankreich stürzten sie bei den Wahlen ab. Und in Deutschland verliert die SPD eine Landtagswahl nach der anderen – zuletzt am Sonntag in Nordrhein-Westfalen. Ist die Sozialdemokratie in Europa am Ende?
Helmut Hubacher: Die Gründe für die Verluste sind von Land zu Land verschieden. François Hollande war der unbeliebteste Präsident Frankreichs aller Zeiten. In Deutschland leidet die SPD noch immer unter der Agenda 2010 des ehemaligen Kanzlers Gerhard Schröder.
Diese Reform des deutschen Sozialsystems ist mehr als zehn Jahre alt.
Die Auswirkungen sind spürbar. Die Agenda 2010 bot kapitalistische Lösungen an. So wurden etwa Arbeitnehmer auf Zeit geschaffen. Diese Politik war und ist für eine linke Partei wie die SPD verheerend.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat mehrfach gegen die Agenda 2010 gewettert – und er versucht seinerseits mit Themen der sozialen Gerechtigkeit zu punkten. Aber auch das funktioniert offensichtlich nicht. Sind nicht einfach gewerkschaftliche Anliegen passé?
Die SPD hat sich von der Agenda 2010 noch nicht erholt – und jetzt kommt Martin Schulz aus Brüssel. Ein Mann, der über 20 Jahre von der deutschen Politik abwesend war. Er hat innenpolitisch nichts vorzuweisen, hat kein Programm – sagte aber vollmundig: «Ich werde Kanzler.» Das Gegenteil ist eingetreten: Das Strohfeuer ist bereits erloschen.
Martin Schulz hat versucht, selbstbewusst eine Euphorie zu entfachen. Wieso ist dies nur ganz zu Beginn gelungen?
Ausser ein paar guten Auftritten zu Beginn kam nicht mehr viel. Stellen Sie sich vor, ein Schweizer Politiker, der zwei Jahrzehnte im Ausland politisierte, käme zurück und möchte auf Anhieb Bundesrat werden. Er hätte keine Chance. Dies ist wohl auch in Deutschland nicht ganz anders. Martin Schulz hat zu dick aufgetragen und ist abgestürzt. Das Rennen ums Kanzleramt ist bereits gelaufen.
CDU-Kanzlerin Angela Merkel war wegen ihrer Flüchtlingspolitik angeschlagen. Wieso konnte die SPD diese Krise nicht ausnutzen?
Die Flüchtlingskrise wäre für die SPD tatsächlich eine grosse Chance gewesen, sich zu profilieren. Denn sie ist ja nicht ausgestanden. Die gut eine Million Flüchtlinge müssen nun integriert werden – in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt. Dass die SPD aus einer solchen Situation nicht politischen Profit schlagen kann, beweist, wie schwach sie derzeit ist.
Helmut Hubacher ist 1926 im Kanton Bern geboren. Nach einer Lehre als SBB-Stationsbeamter wurde er 1953 Gewerkschaftssekretär des VPOD und 1963 Chefredaktor der Basler AZ. Er sass von 1963 bis 1997 im Nationalrat und war von 1975 bis 1990 Präsident der SP Schweiz.
Helmut Hubacher ist 1926 im Kanton Bern geboren. Nach einer Lehre als SBB-Stationsbeamter wurde er 1953 Gewerkschaftssekretär des VPOD und 1963 Chefredaktor der Basler AZ. Er sass von 1963 bis 1997 im Nationalrat und war von 1975 bis 1990 Präsident der SP Schweiz.