SP-Ständerat und SGB-Boss Paul Rechtsteiner
«70 Franken AHV mehr im Monat, das ist ein Durchbruch!»

Im Interview mit BLICK spricht SP-Ständerat und SGB-Boss Paul Rechtsteiner (63) über Sesselkleber, Wahlchancen und den Rentenstreit.
Publiziert: 13.09.2015 um 19:47 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:10 Uhr
Amtsältester: SP-Ständerat Paul Rechsteiner (63) politisiert seit dem 2. Juni 1986 in Bundesbern, bis 2011 als Nationalrat.
Foto: Mirko Ries
Interview: Ruedi Studer

Herr Rechsteiner, Sie sitzen seit dem 2. Juni 1986 in Bern. Sie sind derzeit der amtsälteste Bundesparlamentarier – und ein Sesselkleber?

Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich so lange im Parlament bleibe. Die Wahl zum Präsidenten des Gewerkschaftsbundes lag damals ebenfalls ausserhalb meines Vorstellungsvermögens. Auch die Wahl in den Ständerat war nicht auf meinem Radar. Das ist alles ohne Plan passiert.

29 Jahre in Bern sind aus dieser Planlosigkeit geworden. Da hat man doch auch mal genug!

Nein, es ist eher umgekehrt. Es kommen immer wieder neue, spannende Herausforderungen. Eine lange Amtsdauer für sich alleine ist zwar kein Wert, aber die Erfahrung zählt und wirkt sich in Bezug auf das Durchsetzungsvermögen positiv aus. Das zeigt sich aktuell bei der Renten-Reform.

Wissen Sie, wie viele Vorstösse Sie eingereicht haben?

Keine Ahnung. Zu Beginn sicher mehr als heute.

Die Parlamentsdienste listen alles in allem 320 Rechsteiner-Vorstösse auf. Wissen Sie noch, welches Ihr erster war?

Auch hier: Keine Ahnung.

Es ging um Informationsrechte bezüglich Katastrophen. Schweizerhalle war damals ein Thema.

Und Tschernobyl. Ich kam in einer hochspannenden Phase. Damals hat man energiepolitisch zwar die gleichen Fragen gestellt wie heute, aber noch die falschen Antworten gegeben und damit den Umstieg in die Erneuerbaren verpasst. Erst bei Fukushima kam mit der Energiewende endlich die richtige Antwort.

Sie sind seit Jahrzehnten in Bern. Eine «Lex Rechsteiner» gibt es meines Wissens trotzdem nicht.

Sie heissen vielleicht nicht so, aber die Erfolgsbilanz lässt sich durchaus sehen. Die endgültige Abschaffung der Todesstrafe in der Schweiz geht auf einen meiner Vorstösse zurück. Und einer meiner wichtigsten Erfolge der frühen Jahre war die Insolvenzdeckung der Pensionskassen-Guthaben der Büezer.

Sie sind Akademiker und vertreten als Gewerkschaftspräsident Büezer-Anliegen. Deren Sorgen liegen Ihnen doch fern?

Nein, gar nicht, ich komme persönlich von unten, aus sehr einfachen Verhältnissen. Und ich habe mich schon immer stark gewerkschaftlich engagiert. Als ich Gewerkschaftspräsident wurde, war ich Teil einer Bewegung, welche die Gewerkschaften erneuern wollte.

2011 war Ihre Wahl in den Ständerat die grosse Überraschung. Jetzt besteht durchaus das Risiko, dass Sie abgewählt werden. Das wäre das Ende einer Ära.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ich und mein Team fahren auf Sieg. Die Wiederwahl spätestens im zweiten Wahlgang ist das Ziel.

Vor vier Jahren machten nur etwa 1300 Stimmen den Unterschied zu SVP-Chef Toni Brunner aus. Wie wollen Sie als Linker die bürgerliche Bastion St. Gallen diesmal halten?

Ich muss es wieder aus eigener Kraft schaffen. Ich spüre aber wie damals gerade bei einfachen Leuten auf der Strasse, die nicht parteipolitisch ticken, eine grosse Resonanz. Und die Leute sehen auch den Leistungsausweis. FDP-Ständerätin Karin Keller-Suter und ich haben gemeinsam Einiges für den Kanton St. Gallen erreicht.

Zum Beispiel?

Bei der Bahnvorlage Fabi etwa ging die Ostschweiz anfangs komplett vergessen. Das haben wir mit einem Kraftakt in der Verkehrskommission korrigiert.  Dass Karin Keller und ich in unseren Lagern gut verankert sind und damit die breite Bevölkerung abdecken, verstärkt unser Durchsetzungsvermögen für den Kanton.

Doch was würde es für Sie bedeuten, wenn es am Wahltag heisst: Rechsteiner abgewählt!

Ich fahre auf Sieg. Punkt.

Warum braucht es Sie noch in Bern?

Wir stehen vor grossen Herausforderungen. Für den Kanton geht es etwa um weitere Investitionen in den Bahnverkehr. Sozialpolitisch stehen wir vor einer grossen Rentenreform, die ich im Interesse der Büezer mitprägen will. Gerade im Ständerat spielt es eine grosse Rolle, wer auf dem Spielfeld steht.

Ihr Bundesrat Alain Berset will die Altersvorsorge reformieren. Sie haben in der sozialpolitischen Kommission mitgeholfen, die Mammut-Vorlage zu zerzausen.

Wir haben die Vorlage ins Positive gedreht! Sie war besonders im Bereich der AHV sehr schlecht. Der Bundesrat will die Witwenrenten runterfahren, den Bund aus der AHV-Finanzierung herausnehmen und stellt den Teuerungsausgleich in Frage. Diese Verschlechterungen haben wir abgewehrt. Negativ bleibt die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65, die ich ablehne. Dafür wird die AHV durch eine Erhöhung der Neurenten um 840 Franken im Jahr gestärkt – bei Ehepaarrenten sind es sogar bis zu 2700 Franken!

Gewerkschaftsboss Rechsteiner lässt sich mit 70 Franken mehr pro Monat abspeisen?

Ich bin natürlich mit höheren Vorstellungen ins Rennen gestiegen: 100 Franken als Minimum. In der Kommission lag nicht mehr drin. Aber wir haben ja noch unsere AHV-Plus-Initiative in der Hinterhand, die gut 200 Franken mehr für Einzelpersonen verlangt.

70 Franken AHV mehr, das wird doch mit der nun vorgesehenen Senkung des Mindestumwandlungssatzes bei den Pensionskassen gleich wieder aufgefressen.

Für alle heute 47-Jährigen und Ältere sind die Renten in der heutigen Höhe garantiert! Bei den Jüngeren sind sie weitgehend garantiert. Vor allem für untere und mittlere Einkommen sowie die Ehepaare gibt es über die AHV eine reale Verbesserung!

Trotzdem: 2010 sprachen Sie noch von Rentenklau. Und jetzt wollen sie die noch stärkere Senkung des BVG-Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6,0 Prozent einfach so hinnehmen?

Nein, ich stelle einen Minderheitsantrag, der den Satz bei 6,8 Prozent belassen will. 

Der wird kaum durchkommen. Ebenso wenig der Antrag, dass Frauenrentenalter bei 64 zu belassen. Zwei linke Tabus! Und jetzt wollen Sie gleich beide Kröten schlucken?

Ich habe eine Gesamtbilanz gemacht. Die Verbesserungen bei der AHV bedeuten einen Durchbruch, der für mich die Verschlechterungen aufwiegt. Natürlich hätte ich lieber eine noch bessere Vorlage. Bleibt sie so, stimme ich ihr aber zu.

Sind Sie etwa altersmilde geworden? Die Juso drohen bereits mit dem Referendum.

Nein, wir haben die sozialpolitischen Abbau-Vorlagen der Couchepin-Jahre bekämpft und gebodigt. Zentral ist nun die Stärkung der AHV. Erstmals seit 20 Jahren wird die AHV-Rente substanziell erhöht! Das war  vor einem halben Jahr noch undenkbar. Der jetzige Kompromiss stärkt unter dem Strich die Altersvorsorge und stellt sie bis 2030 auf eine solide Grundlage.

Nicht nur aus den eigenen Reihen droht Gefahr, auch SVP und FDP lehnen den Kompromiss ab.

Deshalb hoffe ich, dass gerade die Rentner bei den Wahlen auch die Rentenfrage berücksichtigen. Wer will bessere, wer will schlechtere Renten?

Ein anderes gewichtiges Thema ist die Flüchtlingskrise. Wie muss die Schweiz darauf reagieren?

Angesichts der Not darf die  Schweiz die Augen nicht verschliessen und muss einen solidarischen Beitrag leisten!

Also zehn-, zwanzig- oder dreissigtausend Leute mehr aufnehmen?

Ich will keine Zahl nennen. Aber wir müssen grundsätzlich bereit sein, angesichts des Elends auch ausserordentliche Massnahmen – etwa bezüglich Unterbringung – zu erbringen. Die Schweiz muss sich um ihrer selbst Willen wieder stärker an ihren humanitären Werten orientieren!

Konkreter bitte.

Wir müssen das Botschaftsasyl wieder einführen. Die Schweiz muss sich solidarisch und unbürokratisch an einem Verteilschlüssel für Europa beteiligen.

Eine weiteres Thema ist die Frankenstärke: Die Schreckensszenarien der Gewerkschaften haben sich bisher nicht bewahrheitet.

Wir dürfen die Risiken für den Industriestandort und den Detailhandel nicht unterschätzen – gerade in einem grenznahen Gebiet wie der Ostschweiz. Wer im Euro-Raum tätig ist, hat weiterhin ein währungsbedingtes Handicap. Das bedroht die Arbeitsplätze. Viele Unternehmen warten jetzt noch die Entwicklung ab, bevor sie entscheiden. Auch wenn sich der Franken leicht abgeschwächt hat, bleibt die Situation gravierend. Die  Nationalbank ist absolut ungenügend unterwegs.

Ein Zurück zum Mindestkurs ist undenkbar. Damit würde die  Nationalbank völlig unglaubwürdig.

Die Wiedereinführung eines Mindestkurses 2011 kam genauso überraschend wie die Aufhebung Anfang 2015. Ein Mindestkurs ist dringend nötig, um Arbeitsplätze zu sichern.

Wie stehen Sie zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative?

Die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft brauchen ein geregeltes Verhältnis zu Europa. Deshalb braucht es eine neue Abstimmung über die Bilateralen Verträge. Diese entscheidet dann auch über die Umsetzung der Initiative.

Das könnte aber das Ende der Bilateralen bedeuten.

Um das zu verhindern, braucht es innenpolitische Schutzmassnahmen – etwa gegen Lohndumping. Das Volk hat den Bilateralen immer dann zugestimmt, wenn Löhne, Arbeitsplätze und ältere Arbeitnehmer geschützt wurden. Dafür braucht es auch in der Wirtschaft ein Umdenken.

Die Linke konnte in dieser Legislatur dank Mitte-links-Allianzen überraschend oft punkten.  Mit den Wahlen im Oktober dürfte das Parlament leicht nach rechts rutschen. Das Ende der linken Party?

Wirtschafts- und steuerpolitische Vorlagen sind noch immer bürgerlich geprägt. Und auch in der Sozial- und Umweltpolitik musste jeder positive Entscheid errungen werden. Die Mehrheitsverhältnisse waren im Parlament schon immer knapp. Deshalb werden wieder wenige Sitze entscheiden, auf welche Seite es kippt. Auch bei der Regierungszusammensetzung.

Kann Eveline Widmer-Schlumpf ihren Sitz halten?

Sie macht einen guten Job. Wie es mit ihr weitergeht, hängt aber vom Wahlausgang ab.

Dann rechnen Sie mit ihrer Abwahl?

Nein, die Aussichten, dass die bewährte Zusammensetzung bestätigt wird, sind intakt.

Zum Schluss: Sie sind nun 63. Treten Sie mit 65 zurück, wenn Sie das Pensionsalter erreichen? Oder ziehen Sie die Legislatur durch?

Ich kann die Zukunft nicht vorhersagen – auch meine nicht! Ich mache mit Freude und Leidenschaft Politik. Und die anstehenden Herausforderungen sind so gross, dass ich für die vollen vier Jahre antrete.

Und danach? Ist 2019 definitiv Schluss?

Für eine Antwort darauf ist es noch viel zu früh.

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