SP-Nationalrat Tim Guldimann zum Poker um die Grosse Koalition in Deutschland
«Martin Schulz ist ausgelaugt!»

SP-Nationalrat Tim Guldimann (67, ZH) wohnt in Berlin und ist Mitglied der deutschen SPD. Im BLICK-Interview erklärt er, weshalb er «zähneknirschend» für Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU ist – und warum SPD-Chef Martin Schulz seine Glaubwürdigkeit verloren hat.
Publiziert: 22.01.2018 um 13:07 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 02:30 Uhr
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SP-Nationalrat Tim Guldimann (ZH) in Berlin: «Pokert die SPD zu hoch, bekommt sie den Schwarzen Peter, und dann ist nicht nur Merkel, sondern auch Schulz am Ende.»
Ruedi Studer

BLICK: Herr Guldimann, Sie sind Mitglied der Schweizer SP wie auch der deutschen SPD. In welcher Partei ist Ihnen derzeit wohler?
Tim
Guldimann: In der SP.

Weshalb?
Die SPD befindet sich in einer schwierigen Situation. Der politische Umbruch im Land hat erst begonnen, während die SPD die grosse Koalition fortsetzen muss. Das ist nicht der Aufbruch zu neuen Ufern, den sich die Partei vor einem Jahr erhofft hatte.

Die SPD ist tief gespalten – nur gerade 56 Prozent der Delegierten sind für Koalitionsverhandlungen. Und Sie?
Ich bin zähneknirschend für diese Verhandlungen. Es ist ein Kopfentscheid, ohne gute Gefühle, von Begeisterung ganz zu schweigen. Ein Kompromiss halt, weil die Alternative noch schlechter wäre. Neuwahlen würden die dringende Regierungsbildung für weitere Monate verzögern und dazu noch 100 Millionen Euro kosten. Zudem wäre überhaupt nicht sicher, ob Neuwahlen einen Neuanfang bringen. Dafür bräuchte es neues Personal, also ohne Angela Merkel bei der CDU, Horst Seehofer bei der CSU und Martin Schulz bei der SPD.

Was kann die SPD überhaupt gewinnen?
Bis jetzt hat SPD in der Europafrage und beim Sozialen einiges erreicht, aber die Umwelt kommt zu kurz. In den kommenden Verhandlungen geht es nur noch um kleine Stellschrauben, zum Beispiel dürfte der Familiennachzug bei Flüchtlingen etwas flexibler gehandhabt werden. Solche Verbesserungen kann die SPD noch erreichen, weil sie weiss, dass Merkel ihr entgegenkommen muss. Gehen nämlich auch diese Koalitionsverhandlungen schief, wird sich Merkel nicht halten können. Deshalb muss sie sich ihre CSU-Freunde in Bayern vorknöpfen.

Dann kann die SPD ja aufs Ganze gehen und ein Wunschprogramm aufstellen!
Nein, kein Wunschprogramm, denn scheitern die Verhandlungen, stellt sich die Frage, wer schuld ist. Der Ärger in der Bevölkerung ist jetzt schon gross. Pokert die SPD zu hoch, bekommt sie den Schwarzen Peter, und dann ist nicht nur Merkel, sondern auch Schulz am Ende.

Schulz hat mit seinem Hin und Her sowieso jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Ist er noch tragbar?
Vor einem Jahr wurde er als grosser Hoffnungsträger mit 100 Prozent Stimmanteil zum Parteichef gewählt. Er hat im Wahlkampf aber viele Fehler gemacht. Mit seiner klaren Oppositions-Ansage nach den Wahlen war er zwar glaubwürdig, aber nicht mehr, als er nach dem Scheitern der Jamaikakoalition daran festhielt und erst auf Drängen des Bundespräsidenten klein beigeben musste. Schulz ist ausgelaugt. Er personifiziert nicht den Aufbruch, den die SPD dringend bräuchte.

Kommt die grosse Koalition zustande, gibt es noch ein ganz anderes Problem: Man überlässt die Oppositionsrolle der AfD.
Ja, das ist ein Teil der misslichen Lage. Die AfD muss ihre Rolle noch finden. Ich bin dagegen, die AfD-Vertreter generell wie Aussätzige zu behandeln. Sie sind demokratisch gewählt. Wenn sie sich an die Regeln und an das Grundgesetz halten, muss ein Dialog in der Sache möglich sein. Ob er was bringt, wird sich weisen.

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