Soziologe Ganga Jey Aratnma
«Wir integrieren Asylsuchende zu schnell in den Arbeitsmarkt»

Der Schweizer Soziologe Ganga Jey Aratnam findet, in der Migrationsdebatte gebe es zu viele blinde Flecken. Zum Beispiel das Thema Grenzgänger. Und auch bei der Rentendebatte werde am Kern des Themas vorbeigeredet.
Publiziert: 11.02.2024 um 15:06 Uhr
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Aktualisiert: 11.02.2024 um 15:09 Uhr
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Ganga Jey Aratnam ist Soziologe – und forscht unter anderem zu Migration.
Foto: Thomas Meier
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Als Ganga Jey Aratnam (50) zum Interview in der Redaktion vorbeikommt, hat er einen Laptop dabei. Zu jedem Argument zeigt er Zahlen und Statistiken, die seine Aussagen stützen. Aratnam steht quer in der Landschaft, denn der Soziologe folgt keinem klassischen Links-rechts-Muster. Er findet, in der Schweiz werde über die grossen Themen Migration und Altersvorsorge zu wenig faktenbasiert diskutiert.

Was sagen Sie, wenn Schweizer Sie fragen: Verstehen Sie Schwiizertüütsch?
Ganga Jey Aratnam: (Lacht.) Diese Frage kommt immer wieder.

Nervt Sie die Frage?
Gar nicht. Bei mir sieht man ja, dass ich ausländische Wurzeln habe. Also ist mein Gegenüber vielleicht unsicher: Ist er hier aufgewachsen oder ist er neu hier? Das ist halt die hypervielfältige Schweiz.

Was meinen Sie mit «hypervielfältig»?
Innerhalb der OECD-Länder hat die Schweiz den höchsten Anteil an im Ausland geborenen Menschen nach dem Ministaat Luxemburg. Es gibt nur ein wirtschaftlich vergleichbar entwickeltes Land, das ähnlich durchmischt ist wie die Schweiz: Australien. Und das haben wir letztes Jahr überholt. Es gibt kaum ein vielfältigeres Land als die Schweiz.

In Katar ist der Anteil Migranten höher.
Aber dort haben die Migrantinnen und Migranten fast keine Rechte durch das sogenannte Kafala-System. Das ist eine Zweiklassengesellschaft. Bei uns können sich Ausländerinnen integrieren und Einfluss nehmen. Das ist vorbildlich. Aber Vielfalt trennt auch. Denn sie umfasst auch wirtschaftliche Aspekte, die viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen.

«Es gibt in der Welt kein vielfältigeres Land als die Schweiz», sagt der Soziologe Ganga Jey Aratnam im Gespräch mit Blick-Journalist Benno Tuchschmid.
Foto: Thomas Meier

Wie meinen Sie das?
Die fünf umsatzstärksten Unternehmen in der Schweiz sind Rohstofffirmen. Die grösste Firma heisst Vitol. Ihr Umsatz ist von 279 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 505 Milliarden im Jahr 2022 hochgeschnellt – und niemand weiss, wie. Vitol muss das auch nicht offenlegen, weil es ein privates Unternehmen ist. 74 Prozent der Unicorn-Start-ups in der Schweiz wurden von Ausländern gegründet. Solche «Einhörner» sind mindestens 1 Milliarde wert. In der Stadt Zürich haben mehr als 70 Prozent der Personen im Arbeitsalter einen Elternteil mit Migrationshintergrund. Diese rasanten Entwicklungen zählen zur Hypervielfalt, in der wir leben.

In der Schweiz ist ein Thema im Bereich Migration dominant: Asyl. Zu Recht?
Wenn man die Zahlen anschaut: nein. Wirtschaftlich sind Geflüchtete allerdings wichtig, das geht oft vergessen.

Wie meinen Sie das?
Die heutigen Asylbewerber sind die früheren «Italiener». In den 1960er-Jahren haben wir niedrig qualifizierte Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Portugal, aus der Türkei und aus dem damaligen Jugoslawien für viel Geld in die Schweiz geholt, damit sie in unseren Fabriken, auf unseren Baustellen und Bauernhöfen arbeiten. Das waren sehr viele Menschen. 1961 war der Einwanderungssaldo bei über 100'000. Seit den 1980er-Jahren ersetzen zunehmend Asylsuchende die einstigen Gastarbeiter. Und es sind weniger als damals: In den letzten vier Jahren kamen durchschnittlich gut 20'000 Asylsuchende ins Land.

Ganga Jey Aratnam: «Mich stört einfach, dass ich kein Schweizerdeutsch spreche. Ich kam erst mit 22 ins Land – uns es reichte nicht mehr.»
Foto: Thomas Meier

Wenn es weniger sind, wieso wird dann so hitzig darüber gestritten?
Weil eine politische Spaltung stattgefunden hat. Nehmen Sie die migrationsfeindliche Schwarzenbach-Initiative aus dem Jahr 1970: Da waren alle grossen Parteien mehrheitlich dagegen. Denn wer wollte Arbeitsmigranten reinholen? Die bürgerlich geprägte Industrie und die Gewerbler. Die Gewerkschaften waren zähneknirschend ebenfalls gegen die Initiative, auch wenn dort die Kritik an der Zuwanderung grösser war, weil man sich Sorgen um die Löhne machte.

Heute gibt es einen Graben zwischen links und rechts. Wieso?
Die liberalen Parteien sagen: hoch qualifizierte Einwanderer ja, niedrig qualifizierte Einwanderer nein. Warum? Weil durch Asylmigration so oder so günstige Arbeitskräfte ins Land kommen. Schutz durch Asyl ist ein Menschenrecht. Fakt ist: Selbst wenn wir unsere Asylgesetze weiter verschärfen, ändert das in Zahlen nicht viel.

Was soll die Schweiz tun?
Wir müssen mehr investieren in diese Menschen: Es gibt da gute Versuche wie die Integrations-Vorlehre, die wir noch besser verankern müssen. Im Moment integrieren wir die Asylsuchenden zu schnell in den Arbeitsmarkt. Das ist gefährlich.

Unser Alltag funktioniere nicht ohne günstige Arbeitskräfte, erklärt Ganga Jey Aratnam.
Foto: Thomas Meier

Zu schnell?
Die Statistiken zeigen: Wer ohne Ausbildung in den Arbeitsmarkt geht, hat ein grosses Risiko, früher oder später in der Sozialhilfe zu landen. Etwa 45 Prozent der Zugewanderten von ausserhalb der EU haben nur die obligatorische Schulbildung. Das reicht nicht. Denn wir müssen wissen: Die Rückkehrquote ist tief. Die Menschen bleiben in der Schweiz.

Viele Menschen haben Angst, dass durch Zuwanderung die Schweizer Kultur verloren geht. Zu Recht?
2022 kamen 7000 Menschen aus Afghanistan. Da gibt es Herausforderungen, denen man sich ohne Scheuklappen annehmen muss. In Afghanistan ist es strafbar, vor der Ehe Sex zu haben. Bei uns können Minderjährige Sex haben, sogar im Schutzalter, wenn der Altersunterschied nicht mehr als drei Jahre beträgt. Aber sie dürfen nicht heiraten. Das sind diametral unterschiedliche Vorstellungen, die es bei der Integration zu überbrücken gilt. In Integration investieren lohnt sich – auch finanziell. Früher gab die Wirtschaft nämlich viel mehr Geld aus, um Arbeitskräfte ins Land zu holen.

Man kann als Land aber auch einfach sagen: Wir wollen nicht investieren. Die sollen wieder nach Hause!
Unser Alltag funktioniert nicht ohne ausländische Arbeitskräfte. Die Gleichstellung verstärkt das noch.

Wieso?
Die Frauen gehen immer stärker in den Arbeitsmarkt – zum guten Glück. Die Männer übernehmen aber nicht im selben Ausmass Aufgaben zu Hause. Die Lücken füllen Wäschereien, Putzkräfte, Kitas. Es gibt einen wachsenden, niedrig qualifizierten Arbeitsbereich, der auf Migration angewiesen ist. Und diese Migrantinnen und Migranten ziehen ihre Familien nach, was ein Menschenrecht ist.

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Pro Jahr heiraten in der Schweiz 37’000 Personen, davon hat in mehr als der Hälfte der Fälle eine Person einen ausländischen Pass.
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Sie sagen also eigentlich: Über die Einwanderungsgesellschaft zu streiten lohnt sich nicht, sie ist längst eine Realität.
Pro Jahr heiraten in der Schweiz 37'000 Personen, davon hat in mehr als der Hälfte der Fälle eine Person einen ausländischen Pass. Das ist eine Zahl, die fast so hoch ist wie die Zahl der Asylsuchenden in der Schweiz. Es sind übrigens auch migrationskritische Männer, die Ausländerinnen heiraten, weil sie Schweizer Frauen für zu emanzipiert halten. Sie heiraten dann Frauen von den Philippinen, aus Thailand, Südamerika oder Osteuropa. Später merken sie: Diese Frauen lassen sich auch nicht alles gefallen. Es gibt nur einen Bereich, wo man etwas ändern kann: bei der Personenfreizügigkeit. Wir müssen uns einfach im Klaren sein, was das bedeutet.

Was?
Es hätte ökonomisch grosse Auswirkungen. Ich sage absichtlich nicht auf den Wohlstand, denn der Wohlstand hängt nicht nur von der Wirtschaft ab.

Wo ist das Problem bei der Personenfreizügigkeit?
Die Personenfreizügigkeit hat Schwächen. Man hat die Thematik der Grenzgänger komplett verschlafen. Allein aus Frankreich arbeiten 220'000 Frontaliers in der Schweiz. Die müssen offiziell nur einmal pro Woche zurück, kontrolliert wird es nicht. In der dauerhaften Wohnbevölkerung werden sie nicht eingerechnet. Das Thema ist unterbelichtet, und das ist nicht gut.

Finden Sie persönlich, es braucht Massnahmen?
Ja, denn in den Städten kommen wir tatsächlich an Grenzen, zum Beispiel bei der Wohnungsknappheit. Für die alteingesessene Bevölkerung – mit oder ohne Migrationshintergrund – ist es eine enorme Herausforderung, zu verstehen, wie und weshalb sich die Schweiz so rasant verändert. Artikel 6 unserer Integrationsverordnung besagt, dass die einheimische Bevölkerung auch miteinbezogen werden muss. Da sollte mehr passieren. Wenn wir das nicht machen, dann bröckelt der soziale Kitt.

Die klassische Alterspyramide steht heute auf dem Kopf. Nicht viele junge Menschen finanzieren wenig Alte, sondern wenig Junge müssen ganz viele Alte finanzieren.
Foto: Thomas Meier

Sie sind seit 28 Jahren in der Schweiz. Wie leicht fiel Ihnen die Integration?
Leicht. Ich bin in der Schweiz wegen meiner Partnerin. Sie ist meine Heimat. Sie ist die Schweiz für mich. Dazu kommt: Ich gehöre zu den Hochqualifizierten. In dieser Position fühlt man sich hier schnell pudelwohl, Diskriminierungen kriegt man weniger mit. Mich stört einfach, dass ich kein Schweizerdeutsch spreche. Ich kam erst mit 22 ins Land – und es reichte nicht mehr. Dafür verstehe ich alle Dialekte. Ich kann zwischen Wallisern und dem Rest übersetzen. Aber mein Hochdeutsch entfremdet gewisse Leute, das merke ich manchmal.

Eine Debatte, die die Schweiz beschäftigt, ist die Altersvorsorge. Wie lange möchten Sie arbeiten?
Lange. Ich arbeite gerne. Aber ich muss auch keine Gestelle auffüllen oder Strassen bauen.

Darauf zielt eine Initiative der Jungen FDP ab, die das Rentenalter erhöhen will. Sind Sie dafür?
Das scheint wegen der demografischen Entwicklung verlockend. Zudem sind ältere Menschen statistisch weniger arbeitslos als der Rest der Bevölkerung. Aber da muss man genauer hinschauen. Der Anteil der Langzeiterwerbslosen liegt bei Personen über 55 bei über der Hälfte. Zudem ist mehr als jede dritte Person ab 55 bis 64 durch Behinderungen eingeschränkt. Bei unter 25-Jährigen ist das im einstelligen Bereich.

Der Economiesuisse-Boss Christoph Mäder sagte im Blick, Arbeiten bis 70 sei für ihn gar kein Problem.
Soll er doch. Es gibt ja kein Arbeitsverbot: Wir reden seit diesem Jahr nicht mehr vom Pensionsalter, sondern vom Referenzalter. Bei der Initiative der Jungen FDP steckt Folgendes dahinter: Statt staatlich für eine nachhaltige Lösung zu sorgen, machen wir die Altersfinanzierung zur individuellen Angelegenheit. Das ist gesellschaftlich eine gefährliche Entwicklung. Die Initiative würde die Ungleichheit verschärfen: Herr Mäder würde länger arbeiten und gut verdienen – ein Langzeitarbeitsloser hätte noch mehr Probleme.

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Unser Sozialsystem beruht letztlich auf einer Idee, die vor 135 Jahren unter dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck entwickelt wurde
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Dann finden Sie also als Wissenschaftler, wir brauchen eine 13. AHV-Rente.
Massnahmen gegen Altersarmut sind wichtig. Aber das grundsätzliche Problem ist: Unser Sozialsystem beruht letztlich auf einer Idee, die vor 135 Jahren unter dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck entwickelt wurde: Ganz viele Junge finanzieren wenig Alte. Dem zugrunde liegt die klassische Alterspyramide. Doch diese steht heute fast auf dem Kopf, und die Form ähnelt einer Urne: Weniger Junge müssen mehr Ältere finanzieren.

Was ist Ihre Lösung?
Wir müssen uns vom Umlageverfahren verabschieden und einen steuerfinanzierten Zukunftsfonds einführen. Das ist nichts Neues: Denken wir an den Bahninfrastrukturfonds. In die Sozialversicherungen fliessen seit Beginn auch Bundessteuermittel, aber hauptsächlich aus Konsumsteuern: auf dem Schnaps, auf dem Tabak sowie Mehrwertsteueranteile.

Wer soll den Zukunftsfonds zahlen?
Wieso nicht die Rohstoffbranche besteuern? Oder eine Luxussteuer einführen? Das ist besser, als die AHV über eine höhere Mehrwertsteuer aufzupäppeln, die vor allem die wenig Privilegierten spüren.

Davon redet in der Schweizer Politik aber niemand.
Für grosse Würfe braucht die Politik Fachwissen und Wissenschaft. Ich hoffe, dieses Einsehen kommt irgendwann. Was wir derzeit tun, ist jedenfalls nicht nachhaltig, wenn wir die Finanzierung nicht langfristig sichern. Wir versuchen, unser Rentensystem durch Migration zu retten. Aber auch Migranten werden alt.

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