Am Mittwoch sorgte der Ukip-Vorsitzende Nigel Farage (52) für den bisher skurrilsten Auftritt in der gehässigen Brexit-Debatte: Auf einem Fischerboot fährt er in London die Themse hinauf, um vor dem Parlament gegen das Schicksal britischer Fischer zu protestieren. Die Europäische Union (EU) habe die lokale Fischerei zerstört, sagt er in die Kameras. Daher müsse man die Union verlassen.
Stunden später reist er mit seinem lilafarbenen «Brexit Battle Bus» in die ostenglische Arbeiterstadt Peterborough. Vor 600 jubelnden Ukip-Anhängern hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Brexit. Für Farage ist es ein Heimspiel: Kaum sonstwo ist die Abneigung gegenüber der EU grösser als hier.
Tausende Osteuropäer zogen in den letzten zehn Jahren dank der Personenfreizügigkeit hierher. Sie kamen, weil es billigen Wohnraum gab und viel Arbeit auf den Feldern und in Fabriken.
Für die einfachen Arbeiter Peterboroughs bedeutet die EU daher nicht Frieden und Freiheit, sondern Masseneinwanderung, überlastete Spitäler und überfüllte Schulen.
SonntagsBlick interviewt Farage kurz vor seinem Auftritt in einer Halle am Stadtrand. Gut gelaunt trinkt der Politiker ein Glas Rotwein.
Sonntagsblick: Hallo, Herr Farage, wir sind Journalisten aus der Schweiz.
Nigel Farage: Oh, you lucky bastards!
Ist die Schweiz für Sie eine Inspiration für Grossbritannien nach dem Brexit?
Das Land regiert sich selbst, es hat die am weitesten entwickelte Form der direkten Demokratie, es ist reicher als alle anderen Länder Europas, das ist kein schlechter Start, nicht?
Wollen Sie ein Grossbritannien nach Schweizer Vorbild?
Oh nein, das funktioniert kaum. Es gibt keine Vorlage für das, was kommt. Wir sind völlig unterschiedliche Nationen. Aber was ich mir wünsche, ist mehr direkte Demokratie. Wir haben die erste Volksabstimmung über die EU seit 41 Jahren! Die Schweiz konnte ihre Angelegenheiten stets so regeln, wie es ihr am besten passt – ich will dasselbe für Grossbritannien.
Es ist offensichtlich: Farage geht es blendend. «Ich glaube, wir werden tatsächlich gewinnen», sagt er und grinst. Gross ist seine Genugtuung darüber, dass die Umfragen eine knappe Entscheidung voraussagen. «Ich habe 25 Jahre auf den Moment hingearbeitet.» Diese Abstimmung ist ihm wichtiger als alles andere. «Ich begann mit Politik, weil ich immer gewinnen wollte. Was nachher passiert, sehen wir dann.» Alle hätten ihn abgeschrieben, sagt er. «Sie nannten mich den heiligen Patron für die verlorene Sache, einen Spinner, einen wütenden Exzentriker und, meine Lieblingsbeleidigung, einen Früchtekuchen.» Die letzten Wochen waren eine «wunderbare Erfahrung».
Dass die Debatte sich vor allem um die Einwanderung drehte, davon profitierte Farage. 300'000 Migranten zogen allein im vergangenen Jahr auf die Insel. Sie trafen auf ein Land, dessen öffentlichen Dienste unter einem heftigen Sparprogramm ächzen.
Farage gibt nicht dem Sparkurs der konservativen Regierung die Schuld am Zustand des Landes, sondern den Einwanderern. Die Ängste der desillusionierten Unterschicht nutzt er, um gegen die EU und ihre Personenfreizügigkeit zu poltern. «Die ungebremste Einwanderung ist das grösste Problem in Grossbritannien», sagt er, «und zwar seit acht Jahren.»
Herr Farage, reicht Ihr Fokus auf die Einwanderung, um die Briten für einen Brexit zu überzeugen?
Wir haben viel mehr gemacht. Wir sagen den Leuten: Glaubt an euch, glaubt an dieses Land, dass wir gut genug sind, unsere Angelegenheiten selber zu erledigen. Wir müssen dafür nicht Mitglied sein in einer grossen, künstlichen politischen Union.
Viele wissen nicht, was nach einem Brexit mit dem Land passiert. Haben Sie einen Plan?
Ja, ja, ja! Wir werden endlich wieder normal! 183 Nationen weltweit haben einen Unabhängigkeitstag. Ich will, dass Grossbritannien die 184. wird. Normale Länder machen ihre Gesetze selber, die Länder kontrollieren ihre Grenzen und entscheiden selber über ihre Zukunft – manchmal richtig, manchmal falsch – aber es ist ihre eigene Entscheidung.
Haben Sie irgendetwas übrig für das, was Europa in den letzten 70 Jahren erreicht hat? Den Frieden, die Stabilität, den Wohlstand.
Wohlstand? Haben Sie die Arbeitslosigkeit in den Mittelmeerländern gesehen? Damit müssen Sie mir wirklich nicht kommen.
Die Gegenseite wirft Farage vor, eine zynische Kampagne auf Kosten hart arbeitender Einwanderer zu fahren. Und dass es ihm nur um Macht gehe. Darauf reagiert Farage empört: «Ich habe Ihnen gerade erzählt, dass ich gut gelaunt, optimistisch und positiv sein will für unsere Nationalität und unser Selbstvertrauen.»
Negativ seien doch die Brexit-Gegner um Premierminister David Cameron. Niemand auf der Gegenseite sage, wie toll die EU ist. Sondern warne nur vor allem Schlechten. «David Cameron ist unser bester Mann», lacht Farage. «Er war wunderbar für unsere Kampagne. Sogar wenn wir ihn bezahlt hätten, hätte er es nicht besser machen können.»
Der Ukip-Vorsitzende nimmt einen letzten Schluck Rotwein. Er müsse nun auf die Bühne für seine «Show». In der Halle ruft bereits die Meute: «Wir wollen unser Land zurück.»
Wir stellen ihm eine letzte Frage: Welchen Wein trinkt er gerade? «Französischen Saint-Emilion», sagt er. »Ein Bordeaux, sehr guter Jahrgang«.
Das Treffen mit Nigel Farage fand vor dem mörderischen Attentat auf Jo Cox statt. Deshalb konnte SonntagsBlick keine Frage dazu stellen.