Sommaruga kämpferisch wie nie
«Wir sind noch lange nicht am Ziel»

Justizmnisterin Simonetta Sommaruga zieht Bilanz – und verrät, auf was sie in ihrem neuen Departement setzt.
Publiziert: 30.12.2018 um 01:00 Uhr
  • Sie verteidigt die bundesrätliche Europapolitik
  • Sie will im Uvek den Klimaschutz verstärken
  • Sie rüffelt die «untätigen» Kantone bei der Bekämpfung von Frauenhandel
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Ein Bild, das ihr bleibt: An der Premiere von «Die göttliche Ordnung» 2017 traf Sommaruga zwei der ersten Nationalrätinnen von 1971. «Sie sind noch ziemlich jung. Das zeigt, wie jung das Frauenstimmrecht noch ist.»
Foto: KARL-HEINZ HUG
Interview: Dana Liechti und Reza Rafi

Sie ist die grosse Gewinnerin der Rochade im Bundesrat: ­Simonetta Sommaruga. Nach acht Jahren als Justizministerin wechselt sie in das begehrte Umwelt-, Verkehr- und Energiedepartement Uvek. An ihrem allerletzten Arbeitstag im Justizdepartement (EJPD) empfing sie SonntagsBlick in ihrem Büro zum Interview. Im Januar wird Nachfolgerin Karin Keller-Sutter die Räume im Bundeshaus West beziehen.

Sommaruga war als Verantwortliche des Migrations- und Asyldossiers immer wieder rechtsbürgerlichen Attacken ausgesetzt. Dennoch erscheint an diesem Morgen keine müde Magistratin zum Gespräch; von Reibungsverlusten nicht die geringste Spur – Sommarugas Selbstbewusstsein scheint mit Händen greifbar. Ihre Antworten zeugen von jener taktischen Geschmeidigkeit, die erst durch jahrelange Eichung im Berner Politgefüge möglich wird. Geplant war ein Bilanzgespräch über ihre Zeit im EJPD. Herausgekommen ist die Ansage einer Frau auf dem Höhepunkt ihrer Macht.

Frau Bundesrätin, wie ist es, nach acht Jahren das Büro im Justizdepartement zu räumen?
Simonetta Sommaruga: Ich verspüre beides, Wehmut und Aufbruchsstimmung. Wehmut, weil ich mit vielen Menschen über lange Zeit sehr intensiv und sehr gerne zusammengearbeitet habe. Gleichzeitig habe ich auch ein gutes Gefühl, weil ich viel erreichen konnte in Themen, die mir wichtig sind. Zum Beispiel für ein modernes Familienrecht, aber auch im Asylbereich.

In der Asylpolitik waren Sie ­Gegenspielerin der SVP. Mit dem Departementswechsel nehmen Sie sich aus der Schusslinie. ­Erleichtert?
Nein. Ich war mir immer bewusst, dass das Thema polarisiert. Umso mehr war es für mich ein Ansporn, Lösungen zu finden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Zwei Drittel der Bevölkerung haben Ja gesagt zur Beschleunigung der Asylverfahren. Das bedeutet, dass wir für die Menschen, die bleiben dürfen, viel mehr in Sachen ­Integration machen können. Und jene, die gehen müssen, haben rasch Klarheit.

Sie haben das Resettlement-Programm aufgegleist, das 800 besonders Schutzbedürftigen Hilfe gewährt. So stellten Sie für Ihre Nachfolgerin Karin Keller-Sutter bereits die Weichen.
Dass die Schweiz Flüchtlingsgruppen aufnimmt, hat eine lange Tradition. Das machte sie schon mit Flüchtlingen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, aus Tibet und Vietnam. In den 90er-Jahren wurde diese Tradition beendet. Ich habe 2013 dem Bundesrat vorgeschlagen, diese Praxis wiederaufzunehmen – das sind besonders verletzliche Flüchtlinge, häufig Frauen, Kinder und Ältere. Die Bevölkerung hat sich da immer sehr offen gezeigt. Auf Wunsch der Kantone schlägt der Bundesrat ein Projekt vor, das uns wieder eine regelmässige Aufnahme von Flüchtlingsgruppen erlaubt.

Sie mussten auch Niederlagen einstecken, etwa bei der Masseneinwanderungs- und der Ausschaffungs-Initiative. Jetzt gehen Sie dank des Neins zur SVP-Selbstbestimmungs-Initiative als Siegerin vom Platz.
In der schweizerischen Politik gibt es nicht Sieger und Verlierer. Stattdessen setzt man sich für Ideen ein und findet eine Mehrheit. Natürlich freut es mich sehr, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Rechtsstaat hochhält. Aber mir waren auch andere Projekte sehr wichtig …

Welche?
Dass wir es nach sieben Jahren ­Arbeit endlich geschafft haben, das Gesetz für die Lohngleichheit im Parlament zu verabschieden. Bei den Zielwerten für mehr Frauen in Führungsetagen sind wir noch nicht so weit, aber auch der Bundesrat ist der Meinung, dass wir zu langsam vorwärtskommen bei der Gleichstellung. Es braucht noch ­etwas Schub in der Wirtschaft, vor allem in den grossen Unternehmen.

Was Bürgerliche anders sehen.
Längst nicht alle – die sanfte Frauenquote wurde ja im Nationalrat von einer Mehrheit unterstützt. Wie bei der Lohngleichheit arbeite ich auch hier nicht mit Sanktionen, sondern mit Transparenz. Das heisst: Es wird sichtbar, wo es bei den Löhnen und beim Frauenanteil in der Chefetage Diskriminierung gibt. Dazu gibt es natürlich auch ­einen gewissen gesellschaftlichen Druck, damit es vorwärtsgeht.

Als Uvek-Vorsteherin werden Sie politisch den Bundesbetrieben vorstehen. Werden Sie bei Post, SBB & Co. Druck punkto Gleichstellung machen?
Das ist eine berechtigte Erwartung der Gesellschaft. Man weiss, dass gemischte Teams besser zusammenarbeiten. Und der gesellschaftliche Druck gilt auch für die bundesnahen Betriebe, die übrigens heute bereits Lohngleichheitsanalysen durchführen. Dort hat der Bundesrat schon in der Vergangenheit hingeschaut. Wir könnten uns gar nicht erlauben, dass der Bund selbst nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Aber: Die Frauenvertretung bleibt weiterhin auf meinem Radar.

Letzten März erklärten Sie in ­einem Gastbeitrag im BLICK 2018 zum Jahr der Frauen. Wurde im Lichte der Wahl von Viola Amherd und Karin Keller-Sutter Ihre Ansage erfüllt?
Ich freue mich sehr, dass ich zwei neue Kolleginnen bekomme und es wieder eine angemessene Frauenvertretung im Bundesrat gibt. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel.
Gemäss einer aktuellen WEF-Umfrage geht die Vertretung der Frauen in der Wirtschaft sogar eher wieder zurück. Es braucht also noch ganz viel Druck.

Wird 2019 ein Frauenjahr?
Ich hoffe es. Ich hoffe aber vor allem, dass es ein gutes Jahr wird für unser ganzes Land. Die Schweiz braucht Aufbruchsstimmung. Es läuft vieles nicht so gut auf dieser Welt – um uns herum ein destabilisiertes Europa und die Rückkehr des Nationalismus.

Apropos Europa – nun sollen da neben FDP-Aussenminister Ignazio Cassis ausgerechnet die beiden SVP-Vertreter Guy Parmelin und Bundespräsident Ueli Maurer eine Lösung finden.
Über unsere Beziehung zu Europa hat immer die Bevölkerung das letzte Wort gehabt – und das bleibt auch so. Wir machen eine Europapolitik, die mehrheitsfähig ist, die die Bevölkerung mitträgt. Das ist auch der Grund, weshalb man das Rahmenabkommen in die Konsultationen schickt.

Man könnte auch sagen: Der Gesamtbundesrat drückt sich vor einer Entscheidung ...
Wir wissen alle, dass wir den bilateralen Weg weiterentwickeln müssen. Das aber ist alles andere als einfach. In der Schweiz muss die Regierung den Weg zusammen mit der Bevölkerung gehen. Wir haben nicht wie in anderen Staaten einen Koalitionsvertrag, den die Regierung unterzeichnet und in der Folge losgelöst von Volksentscheiden umsetzt.

Wegen der Lohnschutzfrage droht Ihren Genossen eine Zerreissprobe zwischen Gewerkschaftsflügel und Pragmatikern. Und das im Wahljahr!
Um meine Partei mache ich mir keine Sorgen. Die SP ist die Partei, die sich für den Lohnschutz einsetzt. Ich bin Teil der Landesregierung und mitverantwortlich dafür, dass wir mehrheitsfähige Lösungen finden. Daran arbeiten wir.

Laut Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann ist der Lohnschutz gewährleistet. Stimmen Sie zu?
Ich verstehe, dass Sie das interessiert, aber lassen Sie den Bundesrat nun die Parteien, die Kantone und die Sozialpartner konsultieren. Wir wollten heute doch über meine Bilanz im EJPD reden (lacht).

Dazu gehört die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und des Themas Verdingkinder. Das lag Ihnen sehr am Herzen.
Es ist einer der blinden Flecken unserer Gesellschaft. Als ich im EJPD angefangen habe, hatten mir viele gesagt, Hände weg von diesem Thema, da kannst du nur verlieren. Ich fand aber, das geht nicht, die Gesellschaft hatte schon viel zu lange weggeschaut. Ich entschuldigte mich dann 2013 im Namen des Bundesrates bei den Opfern. Der Tag hat sich mir eingebrannt: Es war einer der schwierigsten ­Momente in meinem Leben.

Wie war der Kontakt mit Betroffenen?
Ich begegnete Menschen, die in ­ihrem Leben zum ersten Mal von ­einem Behördenmitglied die Anerkennung erfahren haben, dass ­ihnen Unrecht angetan worden ist. Ich habe Hunderte von Briefen ehemaliger Verdingkinder bekommen. Wir organisierten auch einen runden Tisch. Es empört und erschüttert mich aufs Tiefste, was Menschen in unserem Land vor nicht so langer Zeit angetan worden ist.

Sind Sie zufrieden mit der Aufarbeitung?
Es ist gelungen, in kurzer Zeit – ich weiss, für die Opfer ist es eine lange Zeit – ein Gesetz zu machen und den Fonds einzurichten, aus dem die Auszahlungen jetzt laufen, und gleichzeitig eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen. Die Einsicht in die Archive war für viele Menschen auch sehr wichtig; zum ersten Mal zu lesen, was über die eigene Mutter oder über sie selbst geschrieben worden war.

War die Schweiz selbstgerecht?
Man hat einfach weggeschaut, wollte es nicht wissen. Viele dieser Menschen schämten sich sogar noch dafür, was ihnen angetan worden war. Das sind wirklich blinde Flecken. Deshalb war mir wichtig, auch ein Gesetz für den besseren Schutz von gewaltbedrohten Kindern zu machen. Es gibt aber noch einen anderen blinden Flecken, bei dem man zu wenig hinschaut.

Welchen?
Das Thema Frauenhandel. Man denkt, das gibt es bei uns nicht. Falsch: Es gibt in jedem Kanton Opfer. Ich habe einige dieser Opfer besucht – in der Schweiz und in ihren Herkunftsländern wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn. Das sind Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. In unserem Land!

Das fällt primär in den Bereich der Kantone. Müssten die mehr machen?
Es gibt Kantone und Städte, die sehr viel tun. Aber es gibt auch Kantone, die das Gefühl haben, bei ­ihnen gebe es das nicht, und deshalb müsse man auch nichts tun. Dabei ist klar: Polizei, Frauenschutzorganisationen, Migrationsbehörden und andere Stellen müssen eng zusammenarbeiten – überall, in jedem Kanton.

Was wird denn unternommen?
Der Bund fördert seit Jahren die Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden. Wir haben beispielsweise eine Sensibilisierungskampagne beim Gesundheitspersonal gemacht, damit eine Ärztin, wenn eine Frau ins Spital kommt, zum Beispiel erkennen kann, was da läuft – und richtig reagiert. Es braucht aber weiterhin auch internationale Zusammenarbeit und Zeugenschutzprogramme, denn die Frauen sind ja meistens die Einzigen, die der Polizei helfen können, die Täter zu finden. Derzeit setzen wir zusammen mit Kantonen einen zweiten Aktionsplan mit Massnahmen um.

Machen Sie Druck auf die untätigen Kantone?
Es gibt Druck, indem man sagt: Jetzt müsst ihr ran, ihr habt noch nichts gemacht, andere Kantone sind schon weiter. Aber wie immer im Föderalismus: Man versucht, zu überzeugen und nicht zu zwingen.

Sie leiten ab Januar das Infrastruktur- und Umweltdepartement Uvek. Welche Schwerpunkte liegen Ihnen am Herzen?
Das Schöne am Uvek ist, dass man in diesem Departement an dem arbeitet, was unser Land zusammenhält, in Form von Tunnels, Schienen, Strassen, Netzen aller Art. ­Zudem sind es Themen, die alle etwas angehen, weil es um unsere Lebensgrundlagen geht. Da gehören Klima und Umwelt ganz stark dazu. Deshalb ist der Klimaschutz sehr weit oben auf der Traktandenliste.

Sie werden 2019 als erstes Bundesratsmitglied der Geschichte ein AKW abschalten.
Das ist ein wichtiger Moment. Dabei wird uns aber auch bewusst sein, dass wir die erneuerbaren Energien brauchen. Ein AKW abzustellen ist das eine, dennoch genügend Energie zu haben, das andere. Da werde ich versuchen, im Dialog mit der Bevölkerung zu sein, damit sie versteht, worum es geht und wo wir Lösungen brauchen.

Sie werden vor allem die Wirtschaft ins Boot holen müssen.
Ja, das Uvek ist auch ein Wirtschaftsdepartement. Dort braucht man die Wirtschaft, um Lösungen zu finden. Umgekehrt gilt aber auch: Die Wirtschaft braucht das Uvek, denn sie ist auf gute und innovative Infrastrukturen angewiesen.

Muss die Schweiz bei Verkehr und Energieeffizienz einen Schritt vorwärts machen?
Ich lege Ihnen jetzt kein Programm vor. Aber wir wissen alle, dass ein effizientes Verkehrsnetz, ein funktionierendes Stromnetz und eine intakte Umwelt zentrale Lebensgrundlagen für die Menschen sind. Das ist eine schöne Aufgabe, auf die ich mich sehr freue.

Persönlich

Simonetta Sommaruga (58) wurde im November 2010 in den Bundesrat gewählt, wo sie das Justizdepartement leitete. Von 1993 bis 1999 hatte sich die Sozialdemokratin als Geschäftsführerin der Stiftung für Konsumentenschutz einen 
Namen gemacht, ehe sie 2003 in den Nationalrat gewählt wurde. Ab Januar steht die gelernte Konzertpianistin dem Infrastrukturdepartement Uvek vor; für 2019 wurde sie zudem zur Vizepräsidentin des Bundesrats gewählt. 

Simonetta Sommaruga (58) wurde im November 2010 in den Bundesrat gewählt, wo sie das Justizdepartement leitete. Von 1993 bis 1999 hatte sich die Sozialdemokratin als Geschäftsführerin der Stiftung für Konsumentenschutz einen 
Namen gemacht, ehe sie 2003 in den Nationalrat gewählt wurde. Ab Januar steht die gelernte Konzertpianistin dem Infrastrukturdepartement Uvek vor; für 2019 wurde sie zudem zur Vizepräsidentin des Bundesrats gewählt. 

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