Roberto Cirillo (48) trat vor einem Jahr an die Spitze der Post, um den gelben Riesen aus der Postauto-Krise zu führen. Jetzt ist er in der weltweiten Corona-Krise gefordert. Nicht immer können derzeit die Päckli in der gewohnten Frist zugestellt werden, weil Herr und Frau Schweizer viel mehr Pakete bestellen als zu normalen Zeiten. Und anders als vor den Weihnachtstagen stehen dem gelben Riesen jetzt nicht mehr Helfer zur Verfügung – im Gegenteil. Cirillo erklärt BLICK, dass seine Mitarbeitenden riesigen Einsatz zeigten, aber nicht immer alles perfekt laufe. Und er unterstreicht, dass sich die Post ins Zeug lege, damit die Schweiz auch in der Krise funktioniere. Der Tessiner lässt sogar prüfen, ob geschlossene Poststellen wiedereröffnet werden können.
BLICK: Herr Cirillo, kommen Sie mit der Paketflut noch zurecht?
Roberto Cirillo: Die Lage ist angespannt. Täglich müssen wir den Spagat zwischen der Gesundheit unserer Mitarbeiter und immer noch mehr Päckli schaffen. Und die Planung ist schwierig, weil die Mengen schwanken.
Die Menge ist also nicht generell gestiegen?
Doch, wir verzeichnen schweizweit eine Zunahme von etwas mehr als 20 Prozent, doch es gibt tägliche und regionale Unterschiede: Am Mittwoch hatten wir eine Anzahl, wie wir sie sonst nur vor Weihnachten sehen. Und das Paketvolumen ist im Tessin am allerhöchsten. Wir haben da eine Zunahme von über 40 Prozent.
Stehen Ihnen wegen der Krise genügend Leute zur Verfügung?
Bis gestern mussten wir 2240 Mitarbeiter beurlauben, weil sie einer Risikogruppe angehören oder zu Hause ihre Kinder betreuen. Dann haben wir auch eine leichte Erhöhung der Krankschreibungen. Das führt dazu, dass insgesamt einige Tausend Mitarbeiter fehlen. Aber die grössere Herausforderung ist, dass wir durch die Einhaltung von Social Distancing nicht wie üblich arbeiten können: Denn wie wollen Sie in einem Paketzentrum 100 Leute mehr arbeiten lassen, um die steigende Anzahl Päckli zu verarbeiten, wenn diese gleichzeitig zwei Meter Abstand halten müssen? Besonders schwierig macht es die Zunahme an Sperrgut-Paketen.
Sollte man heute mit dem Kauf von grossen Dingen zuwarten?
Es wäre hilfreich. Grosse Pakete stellen uns vor eine fast unlösbare Situation: Wie soll ein einzelner Mensch ein Sofa von 1,80 Meter Länge tragen? Würden zwei Leute Hand anlegen, kämen sie sich zu nahe. Wir mussten hierzu zum Schutz der Mitarbeitenden eine vorübergehende Begrenzung einführen: Sperrgutsendungen müssen von einem einzelnen Mitarbeitenden getragen werden können. Aber natürlich verstehe ich, dass man sich zu Hause beschäftigen will – auch mit Onlineshopping. Wir aber haben darauf zu achten, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesund bleiben. Ohne diese kommen gar keine Päckli mehr an. Aber wir haben die Anzahl und Grösse der Pakete ja nicht selbst in der Hand.
Selbst verantwortlich sind Sie für die Brot-Post. Wird diese besonders nachgefragt?
Und wie! Das Angebot, bei dem Sie täglich frisches Brot von einem Bäcker aus der Region im Milchchästli haben, läuft seit der Krise enorm gut. Sowieso besteht eine Nachfrage nach Angeboten, um sich regionale Produkte nach Hause liefern zu lassen. Im Aargau arbeiten wir mit Bauern zusammen. Bald stechen unsere Landwirte den frischen Spargel. Es ist allen geholfen, wenn dieser den Weg zum Kunden findet, ohne dass jemand zusätzlich aus dem Haus muss. Wir bringen so die Wirtschaft und die Konsumenten auch in diesen Zeiten zusammen.
Wegen der Corona-Krise sind einzelne Geschäftsfelder weggebrochen. Sicher auch bei der Post. Fassen Sie Kurzarbeit ins Auge?
Derzeit ist Kurzarbeit bei der Post selbst kein Thema, nein. Wir sind zuversichtlich, die Krise in den kommenden Wochen ohne zu meistern. Aber es geht ja nicht nur um die über 50'000 Post-Angestellten in der Schweiz. Nehmen Sie Postauto. Hier ist 80 Prozent der Auslastung weggebrochen. Es gibt Linien, wo die Busse fast leer sind. Andere in der Nähe von Spitälern sind aber gut gefüllt. Rund 50 Prozent der Postauto-Leistungen machen wir aber nicht selbst. Sie werden von kleinen oder grösseren Subunternehmen gefahren. Es ist möglich, dass einige davon auf Kurzarbeit angewiesen sind.
Roberto Cirillo kam in Zürich als Sohn italienischer Einwanderer zur Welt, verbrachte seine Jugend im Tessin und arbeitete unter anderem in den Niederlanden, China, Australien, Russland und der Türkei. Im April 2019 kehrte der 48-Jährige in die Schweiz zurück: als neuer Chef der krisengeschüttelten Post.
Roberto Cirillo kam in Zürich als Sohn italienischer Einwanderer zur Welt, verbrachte seine Jugend im Tessin und arbeitete unter anderem in den Niederlanden, China, Australien, Russland und der Türkei. Im April 2019 kehrte der 48-Jährige in die Schweiz zurück: als neuer Chef der krisengeschüttelten Post.
Viel zu tun hatte am Donnerstag die Postfinance. Bei Ihrer Bankentochter haben sich viele Kleinunternehmen einen Überbrückungskredit geholt. Wie viele?
Heute Morgen lagen schon 4000 Anträge vor. Wir verarbeiten sie übers Wochenende und zahlen das Geld am Montag aus. Momentan arbeiten über 60 Leute daran. Und es wird wohl noch eine Weile zunehmen. Für 300'000 KMU ist die Postfinance die Hausbank.
Am Freitag schlossen Sie die Poststelle in Niederweningen ZH – und dies, obwohl die Postagentur im Volg wegen der Krise nicht bereitsteht. Die Bevölkerung versteht das nicht. Niederweningen ist kein Einzelfall.
Wir wurden wie alle in der Welt und in der Schweiz vom Ausmass und den Auswirkungen der Krise überrascht. In Einzelfällen konnte wegen des Virus die nötige Schulung in den Agentur nicht stattfinden. Das bedauern wir. Ich habe heute früh angeordnet, jeden einzelnen Fall zu prüfen und für Ersatz zu sorgen. Wenn kein anderer Postzugang in der Nähe ist, müssen wir eben kreative Lösungen finden.
Sonst lässt die Post die Leute ausgerechnet in der Krise allein, nicht?
Das darf nicht sein! Aber dass irgendjemand in der Schweiz derzeit nicht die erwünschten Leistungen der Post erhält, ist bedauerlich, aber Realität. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun ihr Bestes. Wir versuchen unsere Rolle als Rückgrat der Logistik des Landes und als Grundversorger trotz allem noch überall wahrzunehmen. Ich entschuldige mich für die Fälle, bei denen wir noch keine Lösungen gefunden haben. Ich weiss nicht im Detail, wie die Verhältnisse in Niederweningen sind. Ob beispielsweise die Posträumlichkeiten schon anderweitig vermietet sind. Klar ist: Ich habe Lösungen verlangt und schliesse in diesen Einzelfällen sogar Wiedereröffnungen von geschlossenen Poststellen nicht aus.
Am Anfang der Krise waren einzelne Poststellen ungenügend geschützt. Wie sieht das heute aus?
Jetzt sind alle sicher. Wir haben 170 offene Poststellen mit Plexiglasscheiben ausgerüstet. Den Mitarbeitern stehen heute Desinfektionsmittel zu Verfügung. In den Poststellen gibt es nun Abstandsmarkierungen am Boden. Die Verkaufsstände in den Poststellen für den Warenverkauf sind nicht mehr verfügbar. Jetzt warten die Leute, bis sie dran sind – und dann gehen sie an den Schalter. Wenn die Bevölkerung die Abstandsregeln einhält, ist alles gut.
Viele Büros stehen derzeit leer. In den Briefkästen sammeln sich die Benachrichtigungszettel für Einschreiben. Was machen Sie jetzt mit all den nicht abgeholten Sendungen?
In der Krise hatten viele KMU andere Sorgen, als die Post umzuleiten oder bestellte Ware zu stornieren. Jetzt stapeln sich die Pakete bei der Post. Wir können sie aber nicht einfach zurücksenden. Es könnten ja wichtige Dinge drin sein. Wir haben nun unser Callcenter beauftragt, einen Kunden nach dem anderen zu kontaktieren.
Sie machen eine Anrufaktion?
Ja, wir führen eine Telefonaktion durch und fragen jeden, was wir mit dem Paket machen sollen. Ob wir es ihm vor seine Haustüre legen oder es zurückschicken sollen. Das Problem sind die Pakete aus dem Ausland. Die Postkanäle über die Grenze sind kaum mehr verfügbar.
Bestellen Sie selbst in dieser Zeit auch mehr online? Was haben Sie zuletzt bestellt?
Wir haben tatsächlich vor drei Wochen auch ein Sperrgut-Paket bestellt. Ich bin aber überzeugt, dass es nicht mehr ankommt. Das ist auch gut so. Es würde die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unnötig belasten. Sonst hatte ich keine Zeit fürs Onlineshopping. Ich gehe noch immer eher in die Migros- und Coop-Läden dieses Landes.
Wir wissen nicht, wann die Krise vorbei ist. Aber alle gehen davon aus, dass sie in einigen Monaten vorbei sein wird. Wird dann die Post noch dieselbe sein?
Ich glaube, die Welt wird eine andere sein. Die Schweiz auch. Und die Post ebenfalls. Die Unternehmen werden gelernt haben, den Mitarbeitern mehr zu vertrauen und öfters auf Homeoffice zu setzen. Nehmen sie das «beliebte» Meeting um 7 Uhr morgens: Das ist für Mitarbeiter okay, solange sie dann nicht ihre Kinder zur Schule bringen müssen. In der Praxis sind es oft die Frauen, die hier passen müssen. Mit Homeoffice können wir familienfreundlichere Arbeitsbedingungen einführen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diese Krise ist schlimm. Sie fordert Menschenleben. Aber: Es könnten auch gute Ansätze daraus entstehen.
Gehen wir richtig in der Annahme, dass Sie sich aber derzeit mehr mit der weiteren Entwicklung der Krise beschäftigen?
Stimmt, übers Wochenende wälzen wir Szenarien, was passiert, wenn die Anzahl kranken Mitarbeiter stark steigen würde. Dann müssten wir die Dienstleistungen anpassen. Dabei steht jederzeit die Gesundheit der Mitarbeiter im Zentrum. Zudem schauen wir in enger Abstimmung mit dem Bund, welche Leistungen wir zwingend erbringen müssen, um unser Land am Laufen zu halten. Und was ebenso wichtig sein wird: was wir benötigen, um die Schweiz bei einem Abflauen der Krise rasch wieder zur vollen Leistungsfähigkeit hochzufahren.