Aktuelle Umfragen zeichnen ein klares Bild: Mehr als 60 Prozent sprechen sich dafür aus, dass Homosexuelle heiraten dürfen. Auch das Parlament hat die Ehe für alle bereits im Dezember zweifelsfrei gutgeheissen. Doch weil konservative Kräfte das Referendum ergriffen, kommt das Gesetz am 26. September zur Abstimmung.
Auch wenn demoskopische Zahlen grundsätzlich mit Vorsicht zu geniessen sind: Die Chancen stehen gut, dass die Ehe für alle im Schweizer Stimmvolk eine deutliche Mehrheit findet. Das war vor 20 Jahren noch ganz anders. 1999 lehnte der Nationalrat einen ähnlichen Vorstoss der Grünen-Politikerin Ruth Genner noch mit 117 zu 46 Stimmen ab. Was ist seither passiert? Wie kommt es, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Streitthema Homosexualität seither so stark verändert hat?
Aktivisten sichtbarer geworden
Laura Eigenmann (33), die an der Uni Basel über die europäische Queer-Bewegung doktoriert, sieht dafür verschiedene Gründe. Ein erstes Umdenken habe mit dem Aufkommen der Aids-Epidemie in den 1980er-Jahren stattgefunden. Eigenmann: «Da haben viele Regierungen gemerkt, dass sie mit der Schwulen- und Lesbenbewegung zusammenarbeiten müssen.» Die Aktivisten seien dadurch gestärkt, aber auch sichtbarer geworden.
Als zweiten Grund für eine komfortable Mehrheit im September nennt die Soziologin, dass die Schweiz im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern spät dran ist. Tatsächlich führte Holland die gleichgeschlechtliche Ehe bereits 2001 ein, Spanien folgte 2005, und sogar das erzkatholische Irland legalisierte die Ehe für alle 2015 per Volksentscheid.
Diese Entwicklung dürfte das Ihre dazu beigetragen haben, die Ehe für alle als normal zu etablieren. «Theorien zur Normen-Entwicklung zeigen: Sobald ein Drittel der Akteure von einer neuen Norm überzeugt ist, zieht auch der Rest der Gesellschaft nach», erklärt Eigenmann.
Community dank Sozialen Medien
Als dritten Grund macht die Wissenschaftlerin den Einfluss der Social Media aus. Die hätten dem Normalbürger eine Stimme gegeben – und damit auch jenen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprächen. «Die Menschen haben gesehen, dass andere ganz ähnliche Erfahrungen machen wie sie selbst.» Die sozialen Medien hätten es einfacher gemacht, Gleichgesinnte zu finden, eine Community aufzubauen und sich damit der eigenen Identität zu versichern. «Dadurch wurde die Queer-Bewegung gestärkt.» Zugleich habe die Gesellschaft mit jedem Outing gelernt, Homosexualität als etwas Normales anzuschauen.
Politgeograf Michael Hermann sieht den Gewöhnungseffekt ebenfalls als entscheidenden Faktor. Zudem gehe es bei der Ehe für alle um das Privatleben der Betroffenen. «Es ist also eine reine Frage der Toleranz – und für den Einzelnen nicht mit wirtschaftlichen Vor- oder Nachteilen verbunden.» Das mache es einfacher, dafür zu sein.
Das wissen auch die Befürworter. Sie verlieren keine Zeit – und eröffnen an diesem Wochenende den Abstimmungskampf mit Veranstaltungen in 23 Gemeinden in der ganzen Schweiz.