Was für ein Bild! Auf einem Entwurf für das Bundeshaus aus dem Jahr 1885 schwebt hoch über der Aare eine Quadriga – ein römischer Streitwagen, gelenkt von Siegesgöttin Victoria. Das Projekt wurde nie realisiert. Aber es ist der Gedanke, der zählt: Bern – das neue Rom!
Seit 1848 ist Bern Zentrum des Bundes und de facto Hauptstadt der Schweiz. De jure war es das nie. Kein Bundesgesetz, kein Verfassungsartikel hat es je festgeschrieben. Doch die Macht des Faktischen gilt auch in der Politik.
Von Anfang an setzte sich die Sogkraft des Zentrums durch – und die Logik der kurzen Wege: Seit Ulrich Ochsenbein 1848 ins Bundeshaus einzog, amtete fast ununterbrochen ein Berner im Bundesrat. Das Bundeshaus: ein Bernerhaus. So verstand man das schon immer in der Bundesstadt.
Bis 1999 nur ein Bundesrat pro Kanton
Wenn sich die Bundesverfassung nicht zur Hauptstadtfrage äusserte, so tat sie dies umso deutlicher zur Besetzung des Bundesrates: 150 Jahre lang durfte kein Kanton mehr als einen Vertreter stellen – eine Bestimmung, die erst 1999 aufgehoben wurde. Seither darf ein Kanton auch zwei oder drei oder sieben Bundesräte stellen. Das liegt allein im Ermessen des Parlaments. Denn die Bundesverfassung hält nur noch fest: «Dabei ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind.»
So wurde 1999 ein potenzieller Widerspruch produziert, der 2003 erstmals tatsächliche Folgen zeigte: Als Christoph Blocher neben Moritz Leuenberger in der Landesregierung Platz nahm, stellte ein Kanton (Zürich) zwei Bundesräte.
2019 besteht die reelle Chance, dass eine Stadt diesem Beispiel folgt: Bern. Denn dort lebt nicht nur SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, sondern auch die Grünen-Kandidatin Regula Rytz.
Viele Wege führen ins Bundeshaus
Weichen müsste dann wohl ein Tessiner: Ignazio Cassis, der im letzten SonntagsBlick klagte, die nationalen Minderheiten taugten nur für 1.-August-Reden. Wenn es aber um Machtteilung gehe, spielten sie keine Rolle mehr. Darauf entgegnete Regula Rytz, sie könne die Tessiner verstehen, aber nicht alle Ansprüche liessen sich auf einmal erfüllen. In vielen Tessiner Ohren klang das, als spreche hier das neue Rom, die Kapitale der Schweiz.
Die Bundesverfassung sagt über die Hauptstadt nichts, hält aber fest, dass die Bundesversammlung den Sitz der Bundesbehörden bestimmt. Sollte also eine Mehrheit beschliessen, dass die Regierungszentrale nach Bellinzona gehört, stände einem Umzug verfassungsmässig nichts im Weg. Das würde sich dann wohl auch auf die Besetzung des Bundesrates auswirken. Denn viele Wege führen ins Bundeshaus – aber nicht alle sind gleich lang.